13.08.2020

«Zeichnen Sie ein Quadrat»

Ein Textbeitrag von Sophie Taeuber-Arp aus dem Jahr 1922 im Korrespondenzblatt des Schweiz. Vereins der Gewerbe- und Hauswirtschaftslehrerinnen

Bemerkungen über den Unterricht im ornamentalen Entwerfen.

Ich möchte mich mit Ihnen über den Unterricht im ornamentalen Entwerfen unterhalten und Ihnen sagen, was ich beim Unterrichten etwa denke und einige allgemeine Anleitungen zum Selbstarbeiten geben. Ueber die einzelnen Stickereitechniken spreche ich nicht, es würde zu weit führen.

In unserer komplizierten Zeit, wo der Kampf um die Existenz so schwer wird, habe ich mich schon oft gefragt, weshalb wir eigentlich diese Stickereien machen; warum Ornamente und Farbenzusammenstellungen erfinden, wenn doch so viel Praktischeres und vor allem Notwendigeres zu tun ist? Warum zum Beispiel eine immer noch schönere Spitze machen wollen, wenn ein Hemd oder ein Vorhang ohne Spitzen denselben Dienst tun?

Zum Broterwerb allein tun wir es sicher nicht, denn dann könnten wir einen Beruf finden, der einträglicher wäre und mehr mechanisch, und der uns nicht sozusagen ununterbrochen beschäftigte, so daß uns mehr Zeit für Sport oder soziale Tätigkeit bliebe.

Ich glaube, der Trieb, die Gegenstände, die wir besitzen, zu verschönern, ist ein tiefer und ursprünglicher. Wir wissen ja, daß primitive Völker, die nur sehr wenige Gegenstände verfertigen, doch immer diesen Trieb an sich betätigen. Ein sehr seltsames, ja geheimnisvolles Beispiel hiefür scheinen mir die Buschmänner, die nicht einmal Hütten bauen und doch in ihren Tiermalereien Kunstwerke von großer Kraft und hoher Schönheit geschaffen haben; oder die Indianerfrauen, die schwer arbeiten müssen und doch ihre Kleidungsstücke mit den reichsten Mustern aus Vogelfedern und Stachelschweinborsten verzieren. Ich glaube nun nicht, daß dieser Trieb, die Gegenstände zu verschönern, ein materialistischer und nur mit dem Wunsche nach Besitz und Erhöhung seines Wertes durch Verschönerung identisch ist. Was allein aus materialistischen Beweggründen oder Ehrgeiz hervorgebracht wird, hat mit dem reinen, ursprünglichen Verschönerungstrieb nichts zu tun. Ich glaube vielmehr, daß der Wunsch, schöne Dinge zu schaffen, zusammenfällt mit dem Streben nach Vollkommenheit, wenn dieser Wunsch wahr und aufrichtig ist.

Jeder wird seinen eigenen Weg dazu suchen müssen und viele werden ihn eben darin finden, den Vorgängen in ihrem Innern in Form und Farbe Ausdruck zu geben. Wie Sie aus dem Vorhergehenden ersehen, versuchen wir, wie es in früheren Zeiten geschah, unserem Wesen und unserer Zeit entsprechende Dinge hervorzubringen. Nur wenn wir uns dabei in uns selbst vertiefen und versuchen, ganz wahr zu sein, wird es uns gelingen, Dinge von Wert, lebendige Dinge hervorzubringen und so mit daran zu arbeiten, einen neuen, uns entsprechenden Stil zu bilden.

Der Unterricht im Entwerfen und Sticken an der Kunstgewerbeschule wird durch Naturstudien, Stillehre und Schriftschreiben ergänzt. Wir können von dem Naturstudium lernen, wenn wir das Wesen der Blumen und Bäume, der Tiere und Steine zu erfassen suchen; ebenso können wir an Kunstwerken früherer Zeiten lernen, nicht aber durch totes, peinliches Kopieren. Denn nie wird es uns gelingen, die Kopie einer Blume so schön zu machen, wie sie selbst ist, oder ein Kunstwerk früherer Zeiten ebenso lebendig zu kopieren, wie es ist, da wir nicht die Fähigkeit haben, uns genau in den Zustand eines anderen Menschen zu versetzen. Einer Kopie fehlt das Wesentliche, das Leben, es sei denn, ein wahrer Künstler habe, angeregt durch den Gegenstand, eine Variation davon gemacht und von seinem Leben wieder in die Arbeit hineingetragen. Denken Sie an die geistlosen Kopien verschiedener Stilarten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Häuser und Möbel sind fast immer von einer erstaunlichen Gefühllosigkeit. Die Türmchen-, Quasten- und Butzenscheibensentimentalität sollte Gefühl vortäuschen. In einer solchen Umgebung leben zu müssen, macht einen sehenden Menschen krank. Uebrigens glaube ich auch, daß die Kleidung einen viel größeren Einfluß hat, als man im allgemeinen annimmt.

Unterscheiden Sie stets das Wesentliche vom Unwesentlichen. Der Gegenstand und sein Zweck sind die Hauptsache. Geben Sie diesem Gegenstand eine einfache und zweckmäßige Form. Das Ornament muß sich auf jeden Fall der Form unterordnen. Versuchen Sie auch das Material zu erfassen. Ein Stück Stoff oder eine Strange Wolle von guter Qualität ist immer eine schöne Sache. Versuchen Sie nun, durch die Verzierung den Gegenstand nicht nur nicht zu verderben, sondern ihn wirklich schöner und interessanter zu machen. Das Ornament darf nicht aufgeklebt erscheinen, sondern muß organisch in der Fläche oder aus dem Gegenstand wachsen. Bei einer Blume, bei einem Käfer ist jede Linie, jede Form, jede Farbe aus einer tiefen Notwendigkeit entstanden. Jede wirklich lebendige Aeußerung ist schön oder interessant. Aus Nachahmungssucht, Ehrgeiz oder ähnlichen Empfindungen hergestellte Dinge sind abstoßend. Das klingt nun sehr einfach und Sie werden mir sagen, daß Sie selbstverständlich stets die Dinge verschönern wollen. Hier entscheidet nun der erfahrenere Mensch, ob Ihre Arbeit nur nachgeahmt oder eigenes Erleben ist.

Wenn Sie sich im Entwerfen üben wollen, versuchen Sie vielleicht folgendes: Zeichnen Sie ein Quadrat und versuchen Sie es auf die natürlichste und einfachste Weise aufzuteilen, zu dem Zwecke, die Formen oder Teilungslinien als Verzierung zu verwenden. Sie glauben nicht, was für verschrobene und seltsame Dinge meine Schülerinnen manchmal hervorbringen, wenn ich ihnen diese einfache Aufgabe stelle. Dann teilen Sie als weitere Uebung etwas komplizierter und bemalen Sie die verschiedenen Felder mit zwei oder drei klaren Farben. Versuchen Sie dasselbe mit einem Kreis. Setzen Sie neben eine große Form dieselbe Form ganz klein und wiederholen Sie das mehrmals nebeneinander. Versuchen Sie einen guten Rhythmus herauszubekommen, indem Sie zum Beispiel neben eine große Form drei kleine setzen oder drei Formen absteigender Grösse und das einigemale nebeneinander. Beachten Sie, daß bei diesen einfachen Formen immer die negative Form ebensogut ist wie die positive. Negative Form nennen wir den Zwischenraum zwischen zwei das Ornament bildenden Formen. Sie können auch mit der Linie anfangen. Versuchen Sie, was für Ausdrücke man mit verschiedenen Wellen- oder Zackenlinien erzielt. Versuchen Sie, diese Linien auf kompliziertere Weise zu verschlingen. Verwenden Sie im allgemeinen an den Hauptstellen Ihres Ornamentes keine konkaven Formen. Wollen Sie einen einfachen Gegenstand schmücken, z. B. eine kleine Decke, so bringen Sie nun nicht auf die falsche Weise einen Schmuck an, sondern versuchen Sie, nach den gegebenen Ratschlägen aus dem Material und dem Zweck eine klare Steigerung dieses Gegenstandes zu erzielen; geben Sie ihre Gefühle über den Sinn des gewählten Gegenstandes. Regeln lassen sich nicht aufstellen, weder bei den Formen, noch bei den Farben. Ich gebe Ihnen noch einige Farbübungen an, die bei sorgfältiger Konzentration das Farbenempfinden sehr verfeinern können. Farbenzusammenstellungen, wie sie manche Handarbeitbücher angeben, halte ich nicht für richtig, denn wenn ich rot angebe, wird jede Schülerin doch eine andere Art von Rot wählen. Wir verwenden bei unsern Farbübungen den sechsteiligen Farbkreis. Die Einteilung nach den Regenbogenfarben zu machen wäre zu kompliziert, Teilt man eine kreisrunde Scheibe in sechs Teile und bemalt jeden mit einer möglichst reinen Grundfarbe von der gleichen Helligkeit, und zwar so, daß Rot-Grün, Blau-Orange und Violett-Gelb gegenüberliegt, und dreht diesen Kreis auf einer Drehscheibe, so erscheint Grau. Die Scheibe würde ganz weiß erscheinen, wenn es möglich wäre, Farbstoffe von der intensiven Reinheit der Regenbogenfarben oder des prismatischen Spektrums in der natürlichen Helligkeit herzustellen. Die sich gegenüberliegenden Farben heißen komplementäre oder Ergänzungsfarben, weil sie rein miteinander gemischt sich zu Weiß ergänzen würden. In einer bestimmten Farbe erscheint eine Fläche, wenn sie alles Licht zurückwirft, bis auf die eine Farbe. Übungen mit Komplementärfarben schulen das Auge an Farbempfindlichkeit. Malen Sie zwei Komplementärfarben als Schachbrett nebeneinander, möglichst glatt und in derselben Helligkeit. Man erkennt leicht, ob die Helligkeit dieselbe ist, wenn man mit den Augen blinzelt; dann wird nach kurzer Zeit die zu dunkle Farbe schwarz erscheinen.

Wenn bei einer Arbeit zwei komplementäre Farben von gleicher Helligkeit verwendet werden, so wird nach kurzer Betrachtung das umgekehrte Bild vor dem Auge erscheinen und so die Wirkung sehr unangenehm sein.

Malen Sie auf einer rein grünen Fläche einen rein roten Fleck und betrachten Sie diese Farben einige Zeit intensiv, bis die obenerwähnte Wirkung entsteht. Wird bei dem Farbkreis in der Wahl der Farbtöne eine Änderung vorgenommen, indem der Farbkreis in zwölf Teile geteilt wird, die mit folgenden Farben bemalt werden, so entstehen in den gegenüberliegenden Farben feinere Farbpaare:
Gelb — Blauviolett
Karmin — Blaugrün
Orange — Ultramarinblau
Purpurrot — Grau
Zinnober — Türkis
Purpurviolett — Gelbgrün
Jede Farbe wird dann bei einiger Sorgfalt mit den drei gegenüberliegenden harmonische Farbenzusammenstellungen geben. Zwei Streifen von etwa 12 cm Länge, in sechs Teile geteilt und jeden der sechs Teile mit den oben angegebenen Farben bemalt, werden nebeneinander gelegt und verschoben. Es entstehen so die feinsten Farbenkontraste und Zusammenstellungen, welche die Farbenerfahrung bereichern. Farbenkontraste werden erhöht durch Komplementärfarben. Auch kann man eine Farbe sehr beleben, wenn man Grau daneben setzt, dem etwa ein Drittel der Komplementärfarbe beigemischt ist. Es ist auch sehr interessant, einige Übungen mit Grau zu versuchen, zum Beispiel auf eine mit einer Grundfarbe bemalten Fläche einen Punkt in neutralem Grau von gleicher Helligkeit zu setzen und zu beobachten, wie dieses Grau erscheint und das neutrale Grau zu der Grundfarbe zu suchen, dann das wirklich neutrale Grau und das auf der Grundfarbe erscheinende Grau auf Weiß nebeneinander zu setzen. Zum Beispiel bei Rot muß dem neutralen Grau soviel Rot zugesetzt werden, bis es nicht mehr grünlich erscheint. Diese Übungen sollen das Auge auch für die Tonwerte schulen. Stellen Sie sich eine Skala her von Schwarz zu Weiß. Zehn Teile Schwarz und ein Teil Weiß, dann neun Teile Schwarz und zwei Teile Weiß usw. Fügen Sie dieser Grauskala eine Farbe bei von stets der gleichen Quantität, um so eine getrübte Helligkeitsskala einer Farbe zu bekommen.

Sophie Taeuber, Arp.

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Während wir für die Ausstellung Sophie Taeuber-Arp / Mai-Thu Perret recherchieren, bekomme ich eine der wenigen veröffentlichten Schriften von Sophie Taeuber-Arp zu sehen. Das Korrespondenzblatt des Schweiz. Vereins der Gewerbe- und Hauswirtschaftslehrerinnen, aus dem dieser Beitrag entnommen ist, befindet sich zurzeit in der Forschungsbibliothek Pestalozzianum der Pädagogischen Hochschule Zürich.

1922 unterrichtete Taeuber-Arp an der Kunstgewerbeschule Zürich. Der Text ist vor allem eine Anleitung, sich dem Entwerfen durch relativ einfache Techniken anzunähern. In den ersten Abschnitten jedoch zeichnet sich auch eine Entschiedenheit, die eigene Arbeit zu rechtfertigen, wodurch auch eine ästhetische Kritik ausgedrückt wird. Die Kritik verweist wahrscheinlich auf die zeitnahe und nordwestliche Ästhetik. Dagegen wird das Andere unter der Erwähnung von primitiven Völkern, Buschmännern und Indianerfrauen als Legitimierung für das Ornamentieren herangezogen. Anstelle der Kopie und somit der Arbeit der Reproduktion soll in einem Hineinkreisen und in einer Selbstisolation eine schöpferische Leistung hervorgebracht werden. Ein solches Bedienen des Anderen ist ein typisches Instrumentalisieren und Fragmentieren unbekannter Kulturtechniken. So wird keine Technik aus der Fremde angeeignet, sondern aus dieser Fremde eine Legitimierung oder gar ein Empowerment behauptet. Weiter im Text erklärt Taeuber-Arp wiederum eine bereits europaweit bekannte Technik der Farbenlehre, den Farbkreis.

Es stellen sich viele Fragen zur Schnittstelle zwischen angewandter und bildender Kunst sowie Lehrtätigkeit in Sophie Taeuber-Arps Praxis. Inwiefern informierte beispielsweise die sozioökonomischen Bedingungen der Zürcher Schule Taeuber-Arps Denken? Welche Erzählungen werden in den unterschiedlichen Institutionen der angewandten und bildenden Kunst hervorgehoben? Dem wollen wir nachgehen und warten gespannt auf die Veröffentlichung der Briefedition von Walburga Krupp, Medea Hoch und Sigrid Schade. Die Briefe Taeuber-Arps stehen auch im Fokus der Ausstellung Sophie Taeuber-Arp / Mai-Thu Perret im Cabaret Voltaire. Eröffnung ist am 15. Januar 2021.

Hans Arp schrieb 1948, fünf Jahre nach ihrem unerwarteten Tod:
«In der bunten Schar der Menschen, die mir während meines Lebens begegnet sind, war Sophie der holdeste und klarste. Sie lebte wie der Mensch in den Stundenbüchern und war wie dieser eine fleissige Arbeiterin und eine fleissige Träumerin.»

Lorik Visoka

Korrespondenzblatt des Schweiz. Vereins der Gewerbe- und Hauswirtschaftslehrerinnen. nr. 11/12, 14. jg., Zürich im 31. Dezember 1922