23.12.2020

Wir trinken dummes Bier und verzweifeln an der Zeit

Mein erstes Jahr im Cabaret Voltaire zwischen Neustart und Shutdown und weshalb es wichtig ist, mit Dada gemeinschaftlich, präzise und divers zu denken. Ein Jahresbericht der Direktorin


Dieser Text wird in ähnlicher Form im Hugo Ball Almanach im Frühling 2021 bei edition text + kritik erscheinen. Der 1977 von der Stadt Pirmasens ins Leben gerufene Almanach beschäftigt sich neben dem vielfältigen Werk seines Namensgebers auch mit Autor*innen und Künstler*innen aus dem Umkreis Hugo Balls und des Zürcher Dadaismus.

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Die blaue Farbe der Wände war im Begriff zu trocknen, grüne und rote Stoffe für Vorhänge und Sitzpolster lagen noch in der Schneiderei, als wir am 5. Februar 2020 zur Baustellenbesichtigung und Programmpräsentation begrüssten. An diesem Tag vor 104 Jahren eröffnete die Künstlerkneipe Voltaire mit einem ähnlichen Farbkonzept im Zürcher Niederdorf. Der Überlieferung nach strich Hans Arp die Decke blau und die Wände schwarz. Rote Tischtücher prägten den Raum und ein dürftiger grüner Vorhang hing vor der kleinen Holzbühne.[1] In diesen Räumen also versuchten vor allem junge Emigrant*innen wie Hugo Ball und Emmy Hennings im Kriegsjahr 1916 künstlerisch und kollaborativ den Zeitumständen zu entfliehen. In meiner Antrittsrede an diesem Februarabend sprach ich davon, intensive Begegnungen, ehrliche Konfrontationen und Befragungen initiieren zu wollen, Stillstand zu verhindern und Sensibilität zu fördern. Ich definierte Dada als Befragungsmodus, der nicht zielführend sein muss, sondern in unterschiedlichen Formen und Formaten fortwährend Fragen stellt: Wie reagieren wir auf die Gegenwart? Mit welchen Mitteln denken wir die Zukunft? Welcher Sprache bedienen wir uns? Wer nimmt unter welchen Bedingungen an der Gesellschaft teil? Was bedeutet Existenz? Welche Rolle spielen die Künste? Der Befragungsmodus bleibt, auch wenn die Reaktionen in jeder Zeit justiert werden müssen. Die Schweizer Autorin und Lyrikerin Simone Lappert rezitierte am selben Abend Erinnerungen und Gedichte von Emmy Hennings, beispielsweise «Das kleine Varieté», das Emmy Hennings kurz nach ihrer Ankunft 1915 in Zürich schrieb: «Wir sitzen im kleinen Varieté am Limmatkai. Wir trinken dummes Bier. Wir fühlen uns ein wenig sicher, obgleich wir kein Geld in der Tasche haben. Wir sitzen in einer schlecht gemalten Rosenlaube, alles schwimmt und flirrt im Raum [...]»[2]. Martina und Nicolas Buzzi durchströmten mit ihrer musikalischen Intervention die Bausubstanz und die Körper der Anwesenden. Die Vibrationen brachten die Wände zum Zittern und elektrisierten sowohl das Aktuelle als auch Vergangenes. Wir feierten einen Neustart, ohne die Geschichte dieses Hauses zu vergessen, tranken dummes Bier, tauschten uns aus, brachten historische und aktuelle Themen in einen Dialog.

Wie rapide sich die Gegenwart als Befragungsgegenstand im nächsten Monat ändern wird, und wie sehr wir das gemeinsame dumme Bier trinken vermissen würden, erahnte ich damals noch nicht. «Wir fühlten uns ein wenig sicher». Die Eröffnung des Programms und die Präsentation der räumlichen Anpassungen erfolgte am für die Schweiz denkwürdigen Freitag, dem 13. März 2020. Zwei Stunden bevor wir die Gäste in Empfang nahmen, erschütterte eine neue Realität das Cabaret Voltaire: Die Regierung verkündete eine sofortige Begrenzung von Menschenansammlungen bis 50 Personen. Im Cabaret Voltaire war die Stimmung zugleich angespannt, wohlwollend und unbeholfen. Alle wussten um die Historizität dieses Moments, an dem wir teilhatten. Die Eröffnungsrede an diesem 13. März war grösstenteils improvisiert, die geplanten Sätze schienen mir bereits aus der Zeit gefallen. Ich sprach davon, dass die Krise immer schon Teil des Cabaret Voltaire war. Und genauso das Gemeinschaftliche, die Zusammenkunft, der Austausch, Solidarität – Dada als vereinende Bühne. In diesen Tagen würden sich Krise und das Gemeinschaftliche in besonderer Weise befragen. Solche Herausforderungen hätten bestenfalls das Potential, neue soziale und ökonomische Strukturen zu denken. Sie würden aber auch Ängste hervorbringen, Rassismus, anti-solidarische Reflexe und auch wir müssten uns fragen, inwiefern diese Eröffnung vernünftig sei. Und doch freute ich mich, die Arbeit der vergangenen Monate präsentieren zu dürfen, insbesondere die Auftaktausstellung «Emmy Hennings / Sitara Abuzar Ghaznawi», die meine beabsichtigte dialogische und befragende Herangehensweise widerspiegelte. Für die Wechselausstellungen bekam auch der Gewölbekeller einen frischen Anstrich. Kein White-Cube, der vermeintliche Neutralität verspricht, aber dennoch ein Ort, der unterschiedlich bespielt werden kann.

Das dadaistische Erbe soll unter meiner Leitung stets mit der Gegenwart interagieren. Gegenüberstellungen schärfen die ästhetische und politische Urteilskraft, zeigen diskursive Veränderungen. Dabei werden vor allem auch Protagonist*innen oder Werkaspekte hervorgehoben, die bisher in der Kanonisierung zu wenig Beachtung bekamen. Gerade bei Emmy Hennings (1885–1948) zeigt sich dies exemplarisch. Hennings war Mitbegründerin des Cabaret Voltaire und die präsenteste Figur in der Künstlerkneipe. Ihr vielfältiges Schaffen reicht von performativen Beiträgen, Objekten wie Puppen, Romanen, Gedichten, journalistischen Tätigkeiten bis hin zu Collagen und Glasmalereien. Wer ihre Romane, Gedichte und Artikel liest, begegnet einer Frau, für die das Schreiben Überlebensstrategie war. Scharfsinnig analysiert sie die Existenz, prekäre und ungleiche Lebenssituationen und inszeniert sich als «Vielfaches». Dennoch ist die Rezeption, wenn diese über die Fussnote hinausreicht, geprägt von der Objektivierung als «Andere», Prostituierte, Drogensüchtige, Muse oder «Frau von». Sicherlich tragen die fotografischen Selbstinszenierungen oder kindlichen Offenbarungen zu dieser Geschichtsschreibung bei. Beim Gesamtblick wird dieses Bild jedoch erweitert. Hennings bemühte sich sorgfältig um ihre Texte, verschickte Leseproben in ganz Europa und präsentiert sich beispielsweise im fortgeschrittenen Alter selbstbewusst als Schriftstellerin im Fauteuil. Ich versuchte in der Ausstellung, ihr Oeuvre ernst zu nehmen und zu zeigen, dass Kontinuitäten in ihrem Gesamtwerk zu erkennen sind. So liegen Ekstase und Glaube nahe beieinander, Gefangenschaft und Freiheit ziehen sich durch ihr Schaffen. Motive wie die Rose oder der Wunsch nach Erlösung sind im Werk wieder­kehrend. Neben bekannten Objekten und Dokumenten wie dem «Cabaret-Voltaire-Heft» oder der Abbildung «Emmy Hennings mit Dada-Puppe» ergänzten unter anderem eine Collage und Glasmalereien aus den 1940er-Jahren die Schau. Letztere wurden bis dato noch nie ausgestellt, da man ihnen in der bisherigen Rezeption wenig Anspruch auf Kunst zuschrieb.

Solche Wertzuschreibungsprozesse interessieren Sitara Abuzar Ghaznawi (*1995). Die junge Zürcher Künstlerin mit afghanischen Wurzeln inszenierte die literarischen und künstlerischen Werke Hennings in Vitrinen, die zugleich als Skulpturen zu verstehen waren. Die ungleichen Hauben und fragilen Beine befragten normierte Vorstellungen, der Lackgrund der Präsentationsfläche spielte mit Materialrhetoriken: Lack wirkt beispielsweise je nach Kontext edel, festlich, billig oder kitschig. Als gängiges (BDSM)-Fetischmaterial kommentiert die Textur das Be­gehren nach historisch aufgeladenen Objekten. Vielleicht auch den Zwang, relevante Vergangenheit zu suchen, ohne zu fragen, wem Vergangenheit eigentlich zukommt. Die Biografien und die Schaffensweisen der Frauen sind sehr unterschiedlich, treffen sich aber immer wieder dort, wo Ungleichheiten hervortreten und subtil benannt werden. Beide sind politisch, wenn auch mittels Subjektivität. Und in beiden Werken ist die Rose sowie die Dialektik von Gefangenschaft und Freiheit sehr präsent. Sitara Abuzar Ghaznawi interessiert die Rose jedoch in Bezug auf die Frage nach sozialisiertem Geschmack, westlicher Aneignungskultur und als Distributionsmittel, während Hennings mit der christlichen Rosensymbolik arbeitet. Im Gegenüber mit Ghaznawi zeigen sich blinde Flecken in Hennings Werk und ihrer katholischen, westlichen Warte. Gleichermassen wird Hennings durch die Form von Ghaznawis Zurschaustellung aus der Peripherie ins Blickfeld gerückt.

Dass das Interesse an Hennings erst jetzt aufflackert, hat auch mit der engen und männlich geprägten Dada-Historisierung zu tun. Die «Jahrhundertfrau der Avantgarde», wie sie in der Pirmasenser Schau, die im Februar 2020 eröffnete, zurecht genannt wurde, gerät erst in jüngerer Zeit ins Visier. 2020 erschien die Gedichtsammlung und mit Pirmasens liefen in diesem Pandemiejahr gleich zwei Ausstellungen über Hennings. Ich fuhr noch in der «alten Welt» an die Vernissage in Balls Geburtsort und bekam am nächsten Tag eine Führung von Dr. Eckhard Faul durch das Hugo-Ball-Kabinett und Hugo-Ball-Archiv. Sie zeigte gleichermassen, wie viel sich in der Aufarbeitung getan hat, aber auch wie viel Vermittlungsarbeit uns noch bevorsteht. Umso erfreulicher ist es, dass alleine in der Schweiz derzeit zwei junge Wissenschaftlerinnen ihre Masterarbeit oder Dissertationsschrift zu Hennings verfassen. Ein Schritt zur Akzeptanz Hennings in Künstlerkreisen dürfte auch die Weiterreise der Ausstellung des Cabaret Voltaire ins Swiss Institute in New York sein. Gemeinsam mit dem Swiss Institute wird das Cabaret Voltaire 2021 ein Künstlerbuch herausgeben, das den Dialog zwischen Hennings und Ghaznawi weiterführt. Emmy Hennings bekommt durch diese Kollaboration einen ersten ernsthaften Auftritt in der englischsprachigen Welt.

Über den Rezeptionsstand und die Schwierigkeit, gerade das ephemere performative Werk zu historisieren, sprachen wir auch in der Emmy-Hennings-Soiree, die Anfang September im Cabaret Voltaire in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Literaturarchiv stattfand. Neben dem Gespräch las die bekannte Schauspielerin Heidi Maria Glössner ausgewählte Gedichte und Erinnerungen von Hennings, während die Schriftstellerin Ariane von Graffenried eigene Texte zu Hennings performte. Die «Soireen am Dienstag», in Anlehnung an die historischen Dada-Soireen, sind eigentlich wöchentlich stattfindende Veranstaltungen im Cabaret Voltaire. An den Soireen werden performativ künstlerische, literarische, musikalische, filmische, politische und akademische Auseinandersetzungen vorangetrieben – sowohl von etablierten Kulturschaffenden als auch von Menschen, die am Anfang ihres Tuns stehen. Soireen sind traditionell geschlossene Abendgesellschaften, in welchen zusammen getrunken, gespielt oder diskutiert wird (2020 leider im Social-Distancing-Modus). Im Cabaret Voltaire sind sie – wie schon 1916 – öffentlich und trotzdem soll eine Atmosphäre der Intimität geschaffen werden. Den Auftakt machte Ende August die junge Zürcher Künstlerin Lara Dâmaso (*1996), die sich in ihrer Performance «Repetitions and Fadings» für den tanzenden und singenden Körper als ein und derselbe interessierte.

An der dritten Soiree am 8. September 2020 trafen wir uns abends und führten durch das Cabaret Voltaire und seine internationale Nachbarschaft. Wir starteten im Cabaret Voltaire und gingen danach weiter die Spiegelgasse hoch, wo Lenin mit seiner Frau Nadeschda Krupskaja wohnte, zum internationalen Gewerkschaftsheim Eintracht, zum Schwänlianer-Treff und der Wohnung von Ball und Hennings am Predigerplatz, über das Cabaret Hirschen am Hirschenplatz bis zum Stüssihof, wo sich der «Kegelklub» zur wöchentlichen Debatte traf. «Verzweiflung an der Zeit gepaart mit ungebrochener, jugendlicher Kraft»[3] fand sich sowohl in den künstlerischen Aktivitäten im Cabaret Voltaire als auch in den Debatten der internationalistischen Sozialist*innen und Exilant*innen in den Lokalen der Nachbarschaft. Dabei waren die Ziele im Grunde die gleichen: Friede, Freiheit und eine neue Weltordnung. Vor der Folie aktueller globaler und nationaler Ereignisse – in der Schweiz der Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative, Zürich als Bankenplatz oder die anti-sozialistischen Parolen im US-Wahlkampf – gewann unter anderem Lenins Text «Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus», den er zur Zeit des historischen Cabaret Voltaire in derselben Strasse schrieb, an Aktualität. Auch «Cabaret Avanessian. Avanessian vs. delirium – Update N°12» spielte mit der zeitgenössischen Brisanz, obschon die Referenzen in der nahen Vergangenheit lagen. Anfang 2020 trafen die ersten Texte für Magazin N°12 der Zürcher Literaturplattform «gegen Literatur» ein. Ende September brachen in der Zwischenzeit Corona, eine Wirtschaftskrise und ein weiterer Rekordhitzesommer über die Welt herein. Der bekannte Philosoph und Kulturtheoretiker Armen Avanessian (*1973, Wien) bat die jungen Autor*innen des Hefts deshalb um ein zeitgemässes Update.

Ein Highlight im September war die Veranstaltung «Software Garden» von Rory Pilgrim (*1988/Bristol, lebt in Rotterdam). Der Künstler sucht in Zeiten zunehmendem Nationalismus und Isolationismus Räume, in denen Mensch, Ökologie und Technologie auf Einfühlungsvermögen, Fürsorge und Freundlichkeit treffen. Zu diesem Zweck kombiniert Rory Pilgrim Körper und Stimmen innerhalb und ausserhalb des Bildschirms durch Live-Performances, Musikvideos, Gedichte und interaktive Workshops. Im Cabaret Voltaire berührte er durch sein Harfenspiel in Begleitung der Sängerin Robyn Haddon, seinen Appell an die Menschlichkeit und die Einbindung der Behindertenrechtlerin Carol R. Kallend, die via Skype mit dem Publikum interagierte. Wenn ich davon spreche, dass Dada als Befragungsmodus nach Reaktionen verlangt, die für die eigene Zeit relevant sind, dann bin ich der festen Überzeugung, dass die gemeinsam erlebte Verletzlichkeit und Sensibilität zur aktuellen Dringlichkeit gehören. Zynismus erscheint gegenwärtig nicht selten reaktionär. Das Leise ist vielfach das neue Laut.

In diesem Sinn der heutigen Radikalität darf auch die Performance der international bekannten Künstlerin Isabel Lewis (*1981 USA, lebt in Berlin) betrachtet werden, die, wie der Kunstkritiker Adam Jasper im «Brand-New-Life»-Magazin schrieb,[4] am 14. März 2020 als die letzte Performance in Zürich der voraussehbaren Zukunft galt. Lewis entwickelt seit 2014 eine Idee, die sie als «radikale Empfänglichkeit» bezeichnet und die für sie eine Alternative zu den Formen der sozialen Interaktion bildet, anstelle zu Konflikten, Zwang und Konkurrenz, die im sozialen Austausch kapitalistischer Gesellschaften prominent erscheinen. Lewis legt grossen Wert auf die Rehabilitation der Sinne jenseits des Visuellen als einen Weg, sich auf unsere Umwelt einzustimmen und auf soziale und ökologische Krisen reagieren zu können. Für ihre Performance «Love in the Time of Corona» an diesem Samstag, dem 14. März 2020, verwandelten wir den Saal des Cabaret Voltaire in einen Bambuswald. Die Besucher*innen rochen unter anderem Düfte, die an Rationalität oder Berliner Clubkultur erinnern sollen, während Lewis gekonnt über Implikationen von Liebe via Platon zu Nussbaumer oder Heidegger sprach, DJ-Sets vorführte und tanzte. Kurz vor Performance-Beginn häuften sich die Gerüchte, dass die Grenzen zu Deutschland noch in dieser Nacht schliessen würden. Am 15. März 2020 beschloss ich mit Esther Widmer, der Geschäftsführerin, und dem Vorstand das Cabaret Voltaire bis mindestens Ende April zu schliessen. Am Montag, 16. März verkündete der Bundesrat den Lockdown. Am 8. Juni 2020 öffnete das Cabaret Voltaire wieder im kollaborativen Start mit dem Literaturhaus Zürich und dem Theater Neumarkt unter dem Motto «Nach dem langen Sonntag».

In der Absurdität dieser Eröffnungsphase, in der es zum Lockdown kam, lag etwas Dadaistisches. 2020 war in vielerlei Hinsicht ein bizarres Jahr, das mich näher an die Dada-Zeit in Zürich zwischen Weltkrieg und Spanischer Grippe brachte. 1918 konnte Sophie Taeuber-Arp ihr «König Hirsch» nur zweimal aufführen, es folgte aufgrund der Spanischen Grippe ein achtmonatiger Lockdown. In ihrer Erinnerungsschrift an Sophie Taeuber-Arp beschreibt Emmy Hennings die Zeit ab 1916 wie folgt: «Der Dadaist kämpfte gegen die Agonie, gegen den Todestaumel der Zeit. Im Widerspruch behauptete sich das Leben. Jede Art von Maske war dem Dadaisten recht. Die Maske jedoch diente als notwendiger Unterschlupf, das wahre, zu tief erschütterte Gesicht zu verbergen. Beim Dadaismus war viel Verzweiflung an der Zeit mit ungebrochener, jugendlicher Kraft gepaart, die oftmals wie Übermut und Spottlust anmutete»[5]. 2020 fiel kein Stahlgewitter über Europa, aber viele witterten in den USA einen Bürgerkrieg. Auch die Enttäuschung Italiens über die fehlende europäische Solidarität zu Beginn der Pandemie erschütterte den Glauben an eine Einheit. 2020 konfrontierte uns mit gewaltgeladener Sprache und einem Lagerdenken, das sich bis vor kurzem noch ausserhalb der denkbaren Realität befand. 1916 setzten die Dadaist*innen unter anderem Sprachspiele und Spottlust ein, um solchen gesellschaftlichen Problemen zu entgegnen. Dadaistische «Unsinngedichte» stehen aber heute zum Beispiel mit Trumps postfaktischer Politik in einem anderen Bezugsrahmen als 1916, obschon Doppelmoral und Polarisierungen auch das Wilhelminische Zeitalter prägten. Es sind Gegenüberstellungen wie diese, welche die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Linearität reissen, gleichermassen aber auch die Eigenheiten der Zeit erhellen. Der künstlerische Aktionsraum liegt oftmals dazwischen, das eröffnet neue Perspektiven und zeigt unterschiedliche Schattierungen der Lebensbejahung. Ich kann die Ektase und das Dionysische in einer körperabstinenten und feindseligen Zeit besser verstehen, auch den Wunsch, dummes Bier zu trinken, sich unter einer schlecht gemalten Rosenlaube ein wenig sicher zu fühlen.

Im bereits aufgeführten Zitat Hennings äussert sie auch den wunderbaren Satz: «Im Widerspruch behauptet sich das Leben». Die Dadaist*innen waren besonders erfolgreich darin, den Widerspruch zuzulassen. Das letzte Jahr führte mir die Wichtigkeit des dadaistischen Erbes auch diesbezüglich vor Augen: Mir scheint, dass es zur Aufgabe der Kunst gehört, der Gesellschaft zu lehren, mit Ambivalenzen und Komplexität umzugehen. Ich werte dies als eine der wichtigsten Kompetenzen, um in einer Gesellschaft leben zu können, die nicht ausschliesst, sondern das Gemeinschaftliche in ihrer Vielfalt stärkt. In diesem Sinne war für mich die Auseinandersetzung mit der zweiten und aktuellen Ausstellung im Cabaret Voltaire eine bereichernde Erfahrung. Agnes Scherers (*1985, lebt in Berlin) Schau und Operette «The Teacher» war vorerst bis Ende Januar geplant, wird nun aber bis auf weiteres verlängert. Das ungewöhnliche Performanceformat schöpft Inspiration aus basalen Theaterformen wie Prozessionen, den mechanischen Theatern des Barocks oder der Power-Point-Präsentation. Scherer lässt Claudia Barth während der Performance Sentenzen schreien, die sie teils von Autoritäten zu hören bekam, teils selbst verfasste. Sie analysieren und demonstrieren den rhetorischen Bauplan sogenannter Weisheiten und deren manipulatives Potenzial, geben den Zuhörenden aber keine Lösung. Scherer berührt mit «The Teacher» wichtige Kernthemen von Dada Zürich: Mit der Zusammenführung von Gemälden, Puppenspiel, Skulptur, Bühnentechnik, Musik und Text führt die Künstlerin die Tradition des Gesamtkunstwerks fort. Darüber hinaus veranschaulicht und verdreht sie im Stück autoritäre Beziehungen; sei es in der Sprache, den Gesten oder der visuellen Vermittlung. Die Abschlusslektion „Das Grössere ist das Kleinere und das Kleinere ist das Grössere“ scheint zu behaupten, dass in Wirklichkeit gegenteilige Verhältnisse zu den sichtbaren (Macht-) Verhältnissen vorliegen: Folgerichtig, wenn man bedenkt, dass der Lehrer ohne die stützende Funktion des Schülers handlungsunfähig wäre. Die Puppe «The Teacher» wird vom Performer Soya Arakawa, der auf dem Boden liegt, unter enormer Anstrengung gesteuert. Die Operette mit den grossen von Scherer bemalten Schaubildern oder der rasanten Perkussion von Tobias Textor ist, wie Steven Warwick in der Besprechung der Performance in «Texte zur Kunst» festhält,[6] eine willkommene und frische Einladung, verrottete Strukturen neu zu erschüttern. Das Disziplinübergreifende bleibt hierzu eine wichtige Waffe, um ideologische Verengungen zu sprengen, insofern Dada gegenwärtig auch gemeinschaftlich, präzise und divers gedacht wird.

Salome Hohl

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[1] Richard Huelsenbeck sprach in seiner Erinnerungsschrift Reise bis ans Ende der Freiheit. Autobiographische Fragmente davon. Auch Hugo Ball erwähnte die Inneneinrichtung in einem Brief an Brodnitz vom 27. Januar 1916.

[2] Emmy Hennings, «Kleines Varieté», in: Die Schaubühne, Berlin 1915

[3] Vgl. Emmy Hennings, «Erinnerungen an Sophie Taeuber», in: Sophie Taeuber-Arp, hg. von Georg Schmidt, Basel, Holbein-Verlag, 1948.

[4] «Brand-New-Life» ist ein Schweizer Onlinemagazine für Kunstkritik. Siehe https://brand-new-life.org/b-n...

[5] Vgl. Emmy Hennings, «Erinnerungen an Sophie Taeuber», in: Sophie Taeuber-Arp, hg. von Georg Schmidt, Basel, Holbein-Verlag, 1948.

[6] Siehe Steven Warwick, «School’s out forever: On Agnes Scherer’s Operetta “The Teacher”», in: Texte zur Kunst, Jubiläumsausgabe, Dezember 2020.

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