25.06.2020

Emmy Hennings - Gedichte

Eine Auswahl aus der neuen Gedichtesammlung

Ätherstrophen in: Die letzte Freude, 1913

ÄTHERSTROPHEN

Jetzt muss ich aus der grossen Kugel fallen.
Dabei ist in Paris ein schönes Fest.
Die Menschen sammeln sich am Gare de l’est
Und bunte Seidenfahnen wallen.
Ich aber bin nicht unter ihnen.
Ich fliege in dem grossen Raum.
Ich mische mich in jeden Traum
Und lese in den tausend Mienen.
Es liegt ein kranker Mann in seinem Jammer.
Mich hypnotisiert sein letzter Blick.
Wir sehnen einen Sommertag zurück ...
Ein schwarzes Kreuz erfüllt die Kammer ...
(Dieses Gedicht ist für Hardy)

In: Die letzte Freude, 1913
Hugo Ball erwähnt in einem Brief, dass dieses Gedicht im Frühjahr 1916 im Cabaret Voltaire vorgetragen wurde.

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IM KRANKENHAUSE

Alle Herbste gehen an mir vorüber.
Krank lieg ich im weissen Zimmer,
Tanzen möchte ich wohl lieber.
An die Geigen denk ich immer.
Und es flimmern tausend Lichter.
O, wie bin ich heute schön!
Bunt geschminkte Angesichter
Schnell im Tanz vorüberwehn.
O, die vielen welken Rosen,
Die ich nachts nach Haus getragen,
Die zerdrückt vom vielen Kosen
Morgens auf dem Tische lagen.
An die Mädchen denk ich wieder,
Die wie ich die Liebe machen.
Wenn wir sangen Heimatlieder,
Unter Weinen, unter Lachen.
Und jetzt lieg ich ganz verlassen
In dem stillen weissen Raum.
O, ihr Schwestern von den Gassen,
Kommt zu mir des Nachts im Traum!

In: Die letzte Freude, 1913
Hugo Ball erwähnt in einem Brief, dass dieses Gedicht im Frühjahr 1916 im Cabaret Voltaire vorgetragen wurde.

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O IHR HEILIGEN

O ihr Heiligen mit den kostbaren Namen,
Die alle über den Kreuzweg kamen,
Ich vergass meine Wege,
Ging still durchs Dornengehege
Schmerzlichster Abtötung.

Ich bin im Dunkeln,
Und keine Sterne funkeln
In meine Dämmerung.
Das Gesicht zur Wand gekehrt,
Verlöscht mein Feuer auf dem Herd.
Ich bin jetzt nichts mehr wert.

In: Nachlass Verse und Prosa, 1917; Helle Nacht, 1922
Vorgetragen am 12. Mai 1917 auf der von Tristan Tzara und Hugo Ball veranstalteten Soiree «Alte und Neue Kunst» in der Galerie Dada.

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FREMDE ZÄRTLICHKEIT

In meiner Schulter zuckt eine Idee.
Ein Liebespaar wandert die Hecken entlang
Arm in Arm, lächelnd und sehnsuchtsbang ...
Auf die Berge Jütlands fällt blau der Schnee.

Ich trage soviel fremdes Leid
Und wein’ für andre viele Tränen.
Ich fühle unbekanntes Sehnen
Und gebe fremde Zärtlichkeit

In: Helle Nacht, 1922

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KINDHEIT

Mein Jugendhimmel – eine Glocke aus Glas.
Wir trugen Florentinerhüte.
Auf Kinderhände fiel Kirschenblüte,
Schneeflocken fielen weich und nass.

Die Berge Jütlands und blaue Heide
Und in Vaters Hof fielen manchmal die Sterne.
Da erzählte der Seemann von einer Taverne
Und bunten Mädchen in leuchtender Seide.

«Na, Mädel, willst du mit? Sag ja!»
Matrose gab mir einen Kuss.
«Weil heute ich noch reisen muss.»
Schön sind die Mädchen von Batavia ...

In: Nachlass Verse und Prosa, 1917; Helle Nacht, 1922
Womöglich wurde «Kindheit» oder «Fremde Zärtlichkeit» am 14. Juli 1916 im Zunfthaus zur Waag am 1. Dada-Abend vorgetragen.

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ICH BIN SO VIELFACH

Ich bin so vielfach in den Nächten.
Ich steige aus den dunklen Schächten.
Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein.

So selbstverloren in dem Grunde,
Nachtwache ich, bin Traumesrunde
Und Wunder aus dem Heiligenschrein.

Es öffnen sich mir viele Pforten.
Bin ich nicht da? Bin ich nicht dorten?
Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?

Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten.
Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch.

In: Helle Nacht, 1922; Der Kranz, 1939

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EIN WUNSCH

Ich glaube, es würde mich ewig reuen,
Wenn ich mich müsst alleine freuen.
Meine Freude war noch nie mein eigen,

Ich möchte sie allen und jedem zeigen.
Und meine Leiden, meine Mühen?
Wofür muss sich das Herz verglühen?
Für Alle. Dies darf Keinen kränken.
Wie eine Frucht will ichs verschenken.

Ich möchte lächeln noch im Grabe.
Gab ich denn alles, was ich habe?
Ein flüchtig Leben aus Liebe und Süsse
Will immer schweben wie viele Grüsse ....

Aus dem Nachlass
Das Original ist als Briefbeilage an Emmy Hennings' Tochter Annemarie Schütt-Hennings, 1933

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WENN WIR UNS LIEBEN, STERBEN WIR NICHT

Es war einmal im Märchengarten Eden.
Ich lernte kennen das flüchtige Glück.
Du, Liebster, konntest ewige Worte reden.
Ach, immer denk ich an Dich zurück.

«Wenn wir uns lieben, sterben wir nicht ...»
Hat nicht die Liebe selbst um uns geworben?
Und da du meinem Herzen nie gestorben,
Wie lange lebst du schon im ewigen Licht?

In weiss gekleidet und bereit zur Reise
Lagst du verklärt mit hellem Angesicht.
Stumm war dein Mund. Ich küsste ihn ganz leise:
«Wenn wir uns lieben, sterben wir nicht ....»

Sag mir noch einmal jenes schöne Wort,
Damit ichs Dir kann wiedergeben.
In meine Einsamkeit klingts immerfort
O, Liebe, ohne dich gibt es kein Leben.

Für Hugo, an Maria weitergegeben von Emmy

Aus dem Nachlass
Entstanden 1938, der Titel ist auf ein Zitat von Hugo Ball für Emmy Hennings bezogen. 1927 war Hugo Ball verstorben.

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KAPITALSANLAGE

Man weiss, die Zeiten sind recht knapp.
Wir sorgen gar zu gern für Morgen.
Wer wird uns übermorgen borgen,
Wenn erst das Portemonnai wird schlapp?

Hier weiss ich einen guten Rat,
und will ihn wahrlich nicht verschweigen.
Der Rat könnt sich bewähren in der Tat.
Doch will ich erstmal mein Rezept hier zeigen.

Man ziehe nur das Kapital auf Flaschen,
In Form von Cognak oder Wein.
Solch Unternehmen wird nicht überraschen.
Es muss nur recht etikettieret sein.

Nach rückwärts tut man mal die Zeit verlegen,
Denn wir verschoben ja auch unsere Uhr.
Warn nicht die früheren Zeiten doch ein Segen?
Im Wein und Cognak findet man die Spur.

Jetzt füll zunächst mal Deine Flaschen,
Mit Cognak, Wasser oder Wein.
Doch gut verkorkt muss alles sein.
Dann magst du nach Effekten haschen.

Die Jahreszahl ist nämlich wichtig.
Schreib 1850 drauf.
Vielleicht ist das Geschäft dann richtig,
Und Du schwimmst glücklich obenauf.

Ich bin ja grad beim ausprobieren.
Habt Ihr ne Ahnung, wie man manchmal schwitzt?
Nur, was man schwarz auf weiss besitzt
Kann man getrost ... einmal studieren.

Jetzt ruft Frau Merian mich im Garten.
Ich muss ihr helfen, Sensen dengeln.
Nicht wahr, Ihr werdet mich nicht drängeln?
Ihr könnt gewiss noch etwas warten.

Ich komm schon wieder nach dem Mittagessen.
Man feiert nämlich Silberhochzeitstag,
Und sowas will man doch nicht gern vergessen.
Es komme, was da kommen mag.

Ja, seht mal, grad an diesem Tage.
Da kam das Thema gleichsam unter Dach.
Klingts legendär wie eine Sage?
S’ist mein kaukasisches Gedankenfach.

Jetzt ist es nicht mehr so verschwommen.
Es wird mir klar und immer klarer.
Ihr meint, das Geld wird immer rarer?
Da muss ich wohl mit dem Rezepte kommen.

Man ziehe jeglich Kapital auf Flaschen,
In Form von Cognak oder Wein.
Solch Unternehmen wird nicht überraschen.
Es muss nur recht ettikettieret sein.

Und lasst dann viele Jahre vergehen,
Dann habt Ihr guten, edelen Wein
Mögt ihr dann früher Euch zum Trunk verstehen,
Werdet Ihr gleichfalls ohne Sorgen sein.

Du füllst zunächst mal Deine Flaschen
Mit Cognak, Wasser oder Wein.
Doch wohl verkorkt muss jede Flasche sein.
Dann magst Du nach Effekten haschen.

Die Jahreszahl ist nämlich wichtig.
Und schreibst zu zitternd 1850 drauf,
Vielleicht ist das Geschäft dann richtig,
Und Du schwimmst glücklich obenauf.

Dies selbstverständlich nicht im Weine,
Schwimm sorglos in gemünzter Luft.
Hier sprech ich wie der Dichter Heinrich Heine
Der schwebend sang in seiner Reime Duft.

Nach rückwärts müsste man die Zeit verlegen
Weshalb verrückten wir die kleine Uhr?
Und dies um eine schlanke Stunde nur?
Viel weiter noch zurück, dies wär ein Segen.

Warum denn nur auf Flaschen schwindeln.
Wir wollen anders mal verfügen
Wir leben längst nicht mehr in Windeln.
Es lebt der Mensch vom Selbstbetrügen.

Gewiss, recht reizvoll sind die holden Lügen.
Man könnts auch nennen Illusion
Von Raum und Zeit. Ich wills nicht rügen.
Doch manchmal scheint mir dies ein Hohn.

Ein Hohn, dass wir an Zeit uns klammern.
Dies eine nur find ich zum jammern ...
Drum fliehe, Freund, und überwinde Deine Zeit.
Sie, jeder Augenblick bedeutet Ewigkeit.

Ich will hier kein Problem aufrollen.
Beim Nachbar trank ich guten Wein.
Sah vorher Flaschen an, die vollen.
Da fiel mir ein Gedanke ein.

Wir tranken sie, Kapitalsanlage.
Hier lächle ich, noch in Erinnerung.
Alt war der Cognak ohne Frage,
Und nur die Herzen schlugen jung.

Wir könnten ruhig neunzehnhundertsiebzig schreiben,
Als wäre dieser Cognak jener Zaubertrank,
Den unsere Kindeskinder sich mal einverleiben,
Die uns dann leben lassen. Gott sei Dank.

Doch hat man einen Cognak so ungefähr von vierzig Jahren.
Ich meine doch, hier sollt man lieber sparen.
Hier weiss ich einen, der so leichthin ohne viel Gefrage.
Recht fleissig einschenkt seine Kapitalsanlage.

Fällt ihm nicht ein mal destilliertes Wasser nachzugiessen.
Da siehts man Kapital dann freilich bergab fliessen.
Hier liegts .. Die Flasche braucht ein Extrasiegel.
Der Kork allein ist noch kein sichrer Riegel.

Soll der Wein im Keller liegen?
Und die Zeit, sie muss verfliegen.
Flieg voran, dann kommt sie nach.
Deine Schwingen sind nicht schwach ..

Sieh in einem Augenblick
Ruht der Liebe sanftes Glänzen,
Wohnt ein Ewiges, ein Glück,
Freude nur mag es umgrenzen.

Freude, diese Kapitalsanlage
Bleibt uns sicher ohne Frage,
Und auf diese wolln wir trinken
Seht, die goldenen Sterne blinken.

Aus dem Nachlass, 1940/41

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DAS GEFLOCHTENE KÄSTLEIN SPRICHT

Dir, Ninon bieten kleine Süssigkeiten
Scheint mir ein köstlicher Beruf
Kann sein, es kommen andere Zeiten,
Noch weiss ich nicht, wofür man mich erschuf.

Bald bin ich leer. Wirst du mich füllen?
Vielleicht Nähzeug oder Ringen.
Wie Dirs gefällt. Dir stumm zu Willen
Wird mir am Ende wohl ein Dienst gelingen.

Wer weiss es denn, wo sich das Leben leis verrät?
Im stillen Dienen liegt es sicherlich.
Noch bin ich neu, noch ist es nicht zu spät,
Und gerne bin ich ein Geschenk für Dich.

Aus dem Nachlass, 1940, an Ninon Hesse gerichtet

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BETRUNKEN TAUMELN ...

Betrunken taumeln alle Litfassäulen.
Dir gelten meine glühendsten Extasen!
Wie wir einst fromm die Frau vom Meere lasen
Und alle Regenwinde Deinen Namen heulen!
Vielleicht seh ich Dich einmal in den Parkanlagen.
Mein Kopf liegt schüchtern still in Deinen Händen
Und über die tiefen Wasser senden
Meine sterbenden Augen Grüsse - -

Eine Veröffentlichung wurde bislang nur einmal nachgewiesen: In der Zürcher Literaturzeitschrift Die Ähre. Entstanden 1916 in Zürich.

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MORFIN

Wir warten auf ein letztes Abenteuer
Was kümmert uns der Sonnenschein!
Hochaufgetürmte Tage stürzen ein.
Unruhige Nächte - Gebet im Fegefeuer.

Wir lesen auch nicht mehr die Tagespost
Nur manchmal lächeln wir still in die Kissen,
weil wir alles wissen und gerissen
Fliegen wir hin und her im Fieberfrost.

Mögen Menschen eilen und streben,
Heut fällt der Regen noch trüber.
Wir treiben haltlos durchs Leben
Und schlafen, verwirrt, hinüber.

In: Verse und Prosa, ca. 1917
Das Gedicht entstand spätestens im Frühjahr 1916. Die erste historische Dada-Zeitschrift in Zürich war ein Heft mit dem Cabaret Voltaire. In dieser Publikation sowie in Helle Nacht, 1922, taucht dieses Gedicht ebenfalls auf, jeweils mit variierender Interpunktion. In Helle Nacht trägt das Gedicht allerdings den Titel Versinken.

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MÄDCHENLIED

Hohe blaue Heide
Spinne klare Seide
War ein Kind von sechszehn Jahr
Und der Hans und ich ein Paar
Hohe blaue Heide.

Hohe blaue Heide
Spinne klare Seide.
Wartete noch sieben Jahr
Alles, alles war nicht wahr.
Hohe blaue Heide.

Hohe blaue Heide
Spinne klare Seide.
Blieb das Leben mir so fremd,
Spinn ich mir mein Totenhemd.
Hohe blaue Heide.

Einzelne Veröffentlichung und in: Nachlass Verse und Prosa, 1917

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Die Gedichte wurden aus der neuen umfassenden Sammlung Emmy Hennings Gedichte entnommen, welche dieses Jahr beim Wallstein Verlag erschienen ist. Das Buch ist von Nicola Behrmann und Simone Sumpf im Auftrag des Schweizerischen Literaturarchivs und des Vereins zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs herausgegeben und kommentiert.

Das Buch kann wie gewohnt bei uns in der Dada-Bibliothek erworben werden.

Im Nachwort schreibt Nicola Behrmann über ein Zitat von Emmy Hennings:

Ihre eigene Dichtung hat Hennings zeitlebens mehr als freien Gesang und gläubiges Spiel und weniger als ein »Werk« verstanden. Als sich Carl Schmitt, zeitlebens ein grosser Bewunderer, 1924 nach neuen Gedichten erkundigt, antwortet sie ihm:

»Neue Gedichte sind nicht von mir erschienen. [...] Es heisst: das Leben fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Warum sollte es mit den kleinen Reimen nicht ebenso gehen? Doch wenn Sie Lust haben, im Fluge einiges aufzufangen, sende ich Ihnen gerne eins. Wenn es verweht, macht es nichts. Wichtig bleibt nur die Lust zum Singen, mein ich, und es gefällt mir noch immer, scheint mir.« (Hennings: Brief an Carl Schmitt, [Herbst 1924])



Zusammengestellt von Lorik Visoka

Morfin in: Verse und Prosa, ca. 1917