Eröffnung: 30. April 2022, 18:00–03:00
Ausstellungsdauer: 30.04.2022–13.08.2023

Den vollständigen Ausstellungstext finden Sie hier.

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Im Eingangsbereich befindet sich neu eine Bar, die jeweils für ein Jahr von einer künstlerischen Position bespielt wird und das Haus zur Münstergasse hin öffnet. In ihrer Bezeichnung «Künstler*innenkneipe» referiert die Bar auf den ursprünglichen Namen des Cabaret Voltaire: Die Dadaist*innen eröffneten ihren Kunstraum 1916 ursprünglich als «Künstlerkneipe Voltaire». Mit dem Genderstern wird die Setzung aktualisiert, die Verschränkung von Kunst und Gastronomie aber weitergetragen. Das Cabaret Voltaire lädt Menschen ein, sich ohne museale Absperrungen inmitten von Kunst zu begegnen.

Den Anfang macht Ilaria Vinci (*1991) mit ihrer Ausstellung «Phoenix Philosophy Café». Vinci erforscht in ihrer Praxis das, was sie als «Zone der Fantasie» bezeichnet: Der Bereich in der menschlichen Psyche, in dem sich Selbst- und Weltwahrnehmung treffen und verschwimmen. Die Künstlerin geht der Frage nach, was Realität ausmacht und wie Menschen kommunizieren und imaginieren. Dazu schafft sie Installationen, kreiert Requisiten und Schriftzüge, die sich visuellem und sprachlichem Vokabular bedienen, beim Alltäglichen ansetzen, immer aber ins Phantastische kippen.

Für «Phoenix Philosophy Café» ging Ilaria Vinci von einer besonderen Form von Feuerstelle aus, die ihren Ursprung in Süditalien um 1900 hat: Eine Art Wohnnische, in der sich Menschen versammeln, Geschichten austauschen, debattieren, essen, trinken oder zusammen spielen. Die teilweise leicht angebrannten Möbel, die die Künstlerin für die Ausstellung durch gekonnte malerische Effekte schuf, unterstreichen diese Referenz. In Grautönen gehalten, wirken die Tische und Stühle allerdings leicht entrückt, wie aus einem alten Schwarzweiss-Film. Ganz im Kontrast dazu erinnern die buntflackernden Flammen im Hintergrund an Tiffany-Leuchten, eine spezielle Technik der Glasverarbeitung im Jugendstil. Die Feuerstelleästhetik – dazu gehören auch die von Vinci designten Ziegelsteinkissen in digitaler Ästhetik – kippen mit den Lampen in eine avantgardistische Grand-Café-Atmosphäre. Sowohl die Feuerstelle als auch das Café sind Orte der Begegnung und des Austausches, wobei dem Feuer eine spezielle ästhetische und soziale Kraft zukommt.

Um das Lagerfeuer herum zeigen sich individuelle Gesichter und Gedanken besonders nuanciert, dann verschwinden sie in einem kollektiven Schattenspiel. Flammen fesseln, sie beruhigen, sie wühlen auf. Im lodernden Feuer finden oder verlieren sich Blicke. Die Feuerstelle (und auch das Café) scheint ein Ort zu ein, an dem sich existentialistische Fragen besonders offenbaren: also Auseinandersetzungen mit gelebten Erfahrungen und die Sicht auf ein Individuum als etwas, das in seinem Wesen nicht vorbestimmt ist, sondern erst zu dem wird, was es ist, indem es sich selbst schafft – abhängig von den Situationen, in welchen sie sich wiederfinden. Die grosse gestische Acrylmalerei, teilweise in Airbrush-Technik, in der Nische an der hinteren Wand deutet auf solche Gedankenspiele an.

An der linken unteren Bildhälfte befinden sich drei brennende Kerzen, die mal klarer, mal abstrakter als «I» (deutsch «Ich») gelesen werden können. Spätestens ausgelöst wird diese Assoziation, wenn der Blick auf die vielen Buchstaben «I» schweift, die an ein konkretes oder dadaistisches Gedicht erinnern. Die Wiederholungen von «I» als «Ich» lösen unterschiedliche Gedankenketten aus. Beispielsweise zur gegenseitigen Abhängigkeit der vielen einzelnen Ichs, wodurch die Frage aufkommt, wo das kollektive «Wir» stehen soll. Als deutschsprechende Person führt die Aussprache des englischen «I» absurderweise zum «Ei» (engl. «egg»), das den Schwerpunkt des Gemäldes bildet. Im Gegenüber des in Flammen stehenden Eies und der Kerzen liegt die Überlegung nahe, dass weniger Vergänglichkeit, sondern die Auseinandersetzung mit Lebens- und Gedankenzyklen dem Bild zugrunde liegen. Vinci schafft eine Bildsituation, die sich jeden Moment ändert, ein Transformationsprozess, bei dem nicht klar ist, ob bald etwas Neues aus dem Ei schlüpft oder ausgebrannte Schalen zurückbleiben.

Das brennende Ei auf dem Nest ist eine Referenz an die mythologische Figur des Phönix, die sich in der Ausstellung immer wieder erkennen lässt, etwa auf beiden flankierenden Säulen der Kaminkonsole. Phönix ist die Geschichte eines fabelhaften Vogels, angeblich gross wie ein Adler, mit scharlachrotem und goldenem Gefieder, der sich mit wohlklingenden Schreien mitteilte. Als sich das Leben des Vogels dem Ende zuneigte, baute er sich in der Sonnenstadt Heliopolis ein Nistplatz aus duftenden Zweigen und Gewürzen, zündete das Nest an und verbrannte in den Flammen. Aus dem Scheiterhaufen stieg ein junger Phönix hervor, weshalb die Geschichte zur Metapher für Wiedergeburt und Resilienz wurde. Die Redewendung «wie Phönix aus der Asche» steht aber auch für den Zusammenbruch eines alten Systems und das Aufkommen alter Werte im neuen Gewand – im Dada-Haus und dem Kontext damaliger und aktueller Ereignisse eine bemerkenswerte Referenz.

Eine weitere Bezugnahme ist die Sage des Prometheus, eine der bekanntesten literarischen Figuren. Auch in dieser Geschichte kommt dem Feuer eine wichtige Rolle zu, wenn es um die Handlungsmacht der Menschen geht. Prometheus gilt als Feuerbringer und Kulturbringer, als Begründer menschlicher Zivilisation. Je nach Interpretation gilt er als mutiger Rebell gegen unterdrückende Narrative oder als fortschrittsgläubige Übersteigerung des Menschen.

Die Ausstellung von Vinci ist kein Ort traditioneller Kontemplation von Kunstwerken, sondern auch eine Sitzecke, in der Menschen mit unterschiedlichen Geschichten zusammenfinden und miteinander interagieren; sich selber und andere entdecken. Es geht um den Prozess der Gedankenbildung, der Mitteilungsform und (existentialistisch gedacht) um Momente der Entscheidungen. Vielleicht kann auch der Kunstraum als ein solcher Brutkasten verstanden werden: In der Auseinandersetzung mit grossen, existentiellen und zeitübergreifenden Fragen reifen Impulse für Veränderungen.

Neben der Tatsache, dass die Ausstellung auch Bar ist, ziehen sich Vincis Eingriffe in weitere Bereiche des Betriebs: Zur Ausstellung gehört beispielsweise der Cocktail «Smoky Tear», ein rauchiges Getränk mit Smoke Bubbles, und immer wieder sollen Soireen und diverse Aktivierungen stattfinden: Lesungen, ein gemeinsames Schachspielen oder ein Filmabend sind geplant. In «Phoenix Philosophy Café» verschwimmen Kunsterfahrung und Gastronomie, Ausstellung und Veranstaltungen.

Zur Eröffnung am 30. April 2022 findet die erste Rahmenveranstaltung statt, die auch den Gewölbekeller und den Historischen Saal einnimmt, den Blick auf die neuen architektonischen Eingriffe aber trotzdem zulässt. Phönix zieht von Raum zu Raum, entfacht Feuer, das wieder erlischt und an einem anderen Ort entzündet. Den ewigen Kreislauf weiterdenkend, widmen sich die Beiträge unter anderem dem Sampling und der Wiederholung mit Differenz als künstlerische Praxis. Entsprechend dem verbindenden und zerstreuenden Gedanken des Feuers – und dem dadaistischen Erbe folgend – versammeln sich im Haus unterschiedliche Klänge und Bewegungen. Die Performance «When Darkness», die als Teil der Ausstellung zu verstehen ist, setzt sich zusammen aus einem Live-Soundpiece von Rafal Skoczek und Jamira Estrada, das als Soundtrack zur Ausstellung «Phoenix Philosophy Café» bestehen bleibt, und einer Tanzperformance der Gruppe Stay Kids (mit Ave, Sunny, Tiny, Mary, Anaïs, Arun und Milo) mit Kostümen von Ronja Varonier.

Wir danken Serena Scozzafava für die Hilfestellung bei der Produktion der Textilien, die als Kissenbezüge benutzt werden.

Diese Ausstellung und das Begleitprogramm werden von der Fondation Jan Michalski, der Else v. Sick Stiftung, der Stadt Zürich und dem Kanton Zürich unterstützt.

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Ilaria Vinci, Miss Phoenix, 2022