28.10.2020

Richard Mutt

Das Spiel mit der Autorschaft

Elsa von Freytag-Loringhoven wird heute als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Avantgarde aufgeführt. Auf der Suche in der Dada-Bibliothek nach Hinweisen zu der Person, die auch als Dada-Baroness bezeichnet wird, lässt sich eine Lücke erkennen. Die Funde sind übersichtlich: Ein Beitrag von Britta Jürgs in der von ihr herausgegebenen Publikation «Etwas Wasser in der Seife: Portraits dadaistischer Künstlerinnen und Schriftstellerinnen» (Aviva, 1999), ein Gedicht in der Textsammlung «Das Ding an sich und das Ding an ihr. Dada Erotikon» (Nautilus, 2003), Ein Beitrag von Irene Gammel in der Publikation «Die Dada. Wie Frauen Dada prägten» (Scheidegger & Spiess, 2015), ein längerer Beitrag von Janine A. Mileaf über die Entstehung von «Fountain» in der Publikation zur Ausstellung «Inventing Marcel Duchamp. The dynamics of portraiture» (National Portrait Gallery/MIT Press, 2009) und dann noch eine kleine Publikation einer wissenschaftlichen Arbeit von Anne Mette an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, «Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven: Her Life, Art, and Position in New York Dada» (Grin, 2006). Eine umfassendere Literaturauswahl finde ich im Englischen Seminar der UZH und im Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA).

Aufmerksamkeit bekommt die Dada-Baroness erst in jüngerer Vergangenheit. Anfang der 2000er häufen sich die Beiträge zu ihr, befeuert durch die Literaturtheoretikerin Irene Gammel, die 2002 die erste Biographie mit dem Titel «Baroness Elsa: Gender, Dada, and Everyday Modernity. A Cultural Biography» (MIT Press) veröffentlichte. Darin vermutet sie, dass das Werk «Fountain» auch von Elsa von Freytag-Loringhoven stammen könnte. 2005, also drei Jahre später, zeigt das Cabaret Voltaire eine Schau über die ikonische Künstlerin. Die Ausstellung wurde vom Literaturhaus Berlin von Juri Steiner, Raimund Meyer und Pius Tschumi für Zürich adaptiert. Die Kuratoren nähren die Vermutung, dass Freytag-Loringhoven die eigentliche Urheberin des bekannten Urinals von Marcel Duchamp ist.

Diese Annahme lebt in der heutigen Rezeption des Werkes «Fountain» fort, das als eines der wichtigsten Werke von Marcel Duchamp gilt. Kritischere Stimmen anerkennen die Autorschaft sowohl von Freytag-Loringhoven als auch Duchamp oder führen die Baroness als Inspirationsquelle auf. Gammel veranlasste aber nicht nur bezüglich der Urheberschaft des Urinals eine Wende in der Rezeption, sie verdeutlichte auch, inwiefern Freytag-Loringhoven in ihrem extrovertierten Leben, begleitet durch Flucht, Emigration und vielseitig sexuelle Erfahrungen, Begriffen wie Dragking, Punk, Readymade, Body-Art oder Stream of Consciousness vorausging. Ihr offengelegtes Begehren, sei es in der Aufführung, in Gedichten oder Installationen, blieb Teil ihrer Ausdrucksform. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck von einer bestimmten und für ihre Zeit provokative Persönlichkeit, welche ihre Umwelt sicherlich herausforderte und inspirierte. So auch Marcel Duchamp, welcher 1915 im gleichen Gebäude wie sie ein Atelier hatte. Im Lincoln Arcade Building residierten lange viele Künstler*innen. Auf die Frage, ob sie Dadaistin oder Futuristin sei, antwortete Duchamp mit einem Satz, der heute als wichtiger Nachruf zählt: «Sie ist keine Futuristin. Sie ist die Zukunft».

Wir wissen nicht viel über die Bekanntschaft der beiden, aber ein Spiel ist in der gegenseitigen Erwähnung erkenntlich. Sie macht ein skurriles Portrait von ihm und gesteht ihre sexuelle Zuneigung in einer Performance. Zudem schreibt sie ein Gedicht, in dem sie sich mit ihm wortwörtlich stofflich vergleicht. Marcel Duchamp hingegen ignoriert das Taktile und ist zurückhaltender. In der Publikation «Duchamp and the Women. Friendship, Collaboration, Network», welche dieses Jahr erschienen ist, schreibt Sandro Zanetti: «Duchamp interessierte sich für das 'Andersverwenden' und das damit verbundene 'Anderswerden' der Dinge und Phänomene in erster Linie aus der Rezeptionsperspektive und auf der Ebene einer entsprechenden Konzeptbildung, die er wiederum in eine künstlerische Praxis übersetzte. Die Baroness erklärte hingegen das Anderswerden zum Lebensprinzip und setzte sich mit ihrem Tun, ihrer Kunst und ihrem Körper rückhaltlos dieser Bewegung aus: mit allen Risiken und Nebenwirkungen».

Das Objekt «Fountain», ein Pissoir, das um eine Seite gekippt wird, vereinigt einige Aspekte in einer saloppen Weise. Das Design ist an sich schön vorgefunden und weist trotzdem auf Not einerseits und auf Sexualität andererseits hin. Beide Künstler*innen spielten mit einer Androgynie. Bei beiden spielt die Selbstinszenierung eine grosse Rolle, wobei Marcel Duchamp eine Mässigung pflegte, die im Vergleich fein dosiert erscheint, während seine minimale Kommunikation die Inszenierung bestimmte.

«Fountain» wurde erstmal 1917 bekannt, nachdem das Werk von der Society of Independent Artists für die jährliche Wettbewerbsausstellung abgelehnt wurde. Ein gewisser R.Mutt reichte ein mit "R.Mutt" signiertes handelsübliches Urinal ein. Das Objekt wurde zurückgewiesen mit der Begründung, es sei keine Kunst. Duchamp war das einzige europäische Gründungsmitglied der Society und empörte sich über diesen Entscheid, liess das Objekt davor aber noch von Alfred Stieglitz, dem bekannten Fotograf, fotografieren. Das Original verschwand, womöglich entsorgt, und es blieb nur dieses Foto übrig. The Blind Man, eine Dada-Zeitschrift, trug darauf zu einer provokativen Bekanntmachung des Objektes durch den Titel «The Richard Mutt Case» bei. Die Herausgeber*innen der Zeitschrift waren Marcel Duchamp, Beatrice Wood und Henri-Pierre Roché. Über mehrere Spalten verteidigt der Artikel das Werk: «Ob Mister Mutt das Objekt mit eigenen Händen erschaffen hat oder nicht, ist unwichtig. Er hat es ausgewählt. Er schuf einen neuen Gedanken zum Objekt». Solche Erklärungen sind es auch, weshalb Marcel Duchamp als Vater der Konzeptkunst gilt. Die Kunst liegt im Akt des Auswählens und im Schaffen eines neuen Gedankens. «Fountain» wurde in den 1950er-Jahren wiederentdeckt. Duchamp beanspruchte die Urheberschaft und liess es reproduzieren. «Fountain» gilt als Schlüsselwerk der Moderne. Es war allerdings nicht Duchamps erstes Readymade. Bereits drei Jahre zuvor montierte z.B. er ein Speichenrad eines Fahrrades auf einen Küchenschemmel.

Allerdings ist diese Urheberschaft nicht geklärt. Irene Gammel schreibt in der 2003 auf deutsch erschienen Publikation «Die Dada Baroness» sehr ausführlich über die Hinweise auf die mögliche Autorschaft oder Co-Autorschaft von Freytag-Loringhoven. Vieles stimmt mit dem üblichen Umgang von Elsa von Freytag-Loringhoven überein. Die gemeinsame Umgangsart von Marcel Duchamp und Elsa von Freytag-Loringhoven mit dem Readymade liegt in einem nie endenden Projektionsspiel darin. Einerseits wird die Herkunft stets weiter konstruiert und erfunden und andererseits wird der Selbstbezug immer wieder aus dem Weg geräumt, abwechselnd zwischen Kontrolle und Spiel. Ihre unbürgerliche Lebensweise erklärt eine weitere Eigenschaft des Readymade: Abgesehen von anderen Skandalen wird auch erwähnt, dass sie aus verschiedenen Gründen in der Öffentlichkeit stehlte. Die Aneignung der Dinge proklamierte sie körperlich: Ihre Kleider waren aus selbstentworfenen Teilen und vorgefundenen Alltagsgegeständen. Aus diesen Gesichtspunkten erscheint es nicht primär wichtig, ob eine genau verortete Autorschaft der Dada Baroness gerecht werden kann, sondern die Formen und Begriffe zu verwenden und zu erfinden, welche der Kollaborationen näher kommen.

Erwähnenswert für die Konstruktion des Werkes und somit der Autorschaft ist auch der Beitrag unter dem Titel «Buddha of the Bathroom» von Louise Norton/Varèse, die in der selbigen The Blind Man-Ausgabe in einem kritischen Essay das Werk verteidigt: «Als die Juroren der 'Society of Independent Artists' sich beeilten, die von Richard Mutt eingereichte Skulptur namens Fountain zu entfernen, weil das Objekt unwiderrufflich in ihren atavistischen Geistern mit einer gewissen natürlichen Funktion einer verschwiegenen Art verbunden ist. Wie angenehm ist jedoch seine keusche Einfachheit in Linie und Farbe für ein "unschuldiges" Auge! Jemand sagte: "wie ein schöner Buddha"; jemand sagte: "wie die Beine der Damen von Cézanne"; aber haben sie Sie nicht, diese Damen, in ihren langen, runden Nacktheit immer an die stillen Kurven von dekadentem Klempnerporzellan erinnert?» (Übersetzung aus: «Duchamp and the Women. Friendship, Collaboration, Network», Snoeck, 2020)

Marcel Duchamp schreibt am 11. April 1917 an Suzanne Duchamp mit einem bescheidenen Tonfall: «Eine meiner Freundinnen, unter einem männlichen Pseudonym, Richard Mutt, hatte ein Pissoir aus Porzellan eingeschickt; es war überhaupt nicht unanständig; es gab keinen Grund dies abzulehnen.»

Weiterführende Literatur und Links:

Die Dada Baroness: das wilde Leben der Elsa von Freytag-Loringhoven - Irene Gammel, Edition Ebersbach, 2003
Body Sweats: The Uncensored Writings of Elsa von Freytag-Loringhoven - Irene Gammel, Suzanne Zelazo, MIT Press, 2016
Duchamp and the Women. Friendship, Collaboration, Network - Renate Wiehager, Katharina Neuburger, Snoeck, 2020
Inventing Marcel Duchamp. The Dynamics of Portraiture - Anne Collins Goodyear/James W. McManus, National Portrait Gallery/MIT Press, 2009
Elsa von Freytag-Loringhoven, Special Collections, University of Maryland Libraries

Lorik Visoka

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