28.12.2021

(Geistige) Ausgrabungen und transhistorische Reisen

Das Cabaret Voltaire wurde im zweiten Pandemiejahr saniert und gastierte auf dem Monte Verità und dem Züricher Münsterhof. Ein Jahresbericht der Direktorin

Dieser Text wird in ähnlicher Form im Hugo Ball Almanach im Frühling 2022 bei edition text + kritik erscheinen. Der 1977 von der Stadt Pirmasens ins Leben gerufene Almanach beschäftigt sich neben dem vielfältigen Werk seines Namensgebers auch mit Autor*innen und Künstler*innen aus dem Umkreis Hugo Balls und des Zürcher Dadaismus.

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Pandemie und Instandsetzung: Veränderte Zeit- und Raumachsen

Es ist schwierig, die Sonderjahre 2020, 2021 und (wahrscheinlich) 2022 voneinander abzugrenzen. Die wellenartige Realität der Pandemie überschwemmt Orientierungspunkte, und trotzdem bleiben gewisse Ereignisse in Erinnerung: Der Sturm aufs Kapitol, die erste Impfung, das Unwetter im Sommer. Vielleicht sind es die limitierten physischen Begegnungen, die fehlende Spontanität oder die latente Angespanntheit, die das Gefühl eines dahindümpelnden Alltags auslösen. Im Cabaret Voltaire stieß dieses Gefühl einer ausgedehnten Ausnahmesituation auf eine weitere Ausnahmesituation, die den pandemischen Rhythmus retrospektiv wohltuend störte. Im Mai 2021 begann die Sanierung der historischen Räumlichkeiten an der Spiegelgasse 1, die voraussichtlich im März 2022 abgeschlossen werden. Während der Instandsetzung besuchte das Cabaret Voltaire Orte, die schon für die Dadaist*innen 1916/1917 von Bedeutung waren. Von Mitte August bis Oktober präsentierten wir ein Projekt auf dem Monte Verità, der zentral für die Lebensreform war und auf dem sich auch viele Dadaist*innen tummelten. Ende August bis Anfang September bespielte das Cabaret Voltaire den Züricher Münsterhof in unmittelbarer Nähe zum Zunfthaus zur Waag. Dort fand 1916 die erste Dada-Soiree nach dem Ende des historischen Cabaret Voltaire statt. Das Jahr 2021 startete jedoch – nach einer zweimonatigen Schließung aufgrund von Covid-19 – im März an der Spiegelgasse. Der Gastronomielockdown und das Veranstaltungsverbot hatten zur Folge, dass wir den Historischen Saal zum Ausstellungsraum umfunktionierten. So war es uns möglich, gerade jungen Künstler*innen erste institutionelle Ausstellungserfahrungen zu ermöglichen. Online-Kooperationen mit dem Berner Radio Bollwerk, dem Online-Magazin Republik, der Volksbühne Berlin und dem Theater Neumarkt führten gleichzeitig dazu, dass wir unseren Radius vergrößern konnten. Und auch die 2021 initiierten Publikationen gehen aus Zusammenarbeiten hervor: Mit dem Swiss Institute in New York begannen die Arbeiten an der Publikation Emmy Hennings / Sitara Abuzar Ghaznawi, und gemeinsam mit dem Kunsthaus Zürich entstand der Pocket Guide Dada Stadt Zürich. Seit Oktober 2021 ist er in Deutsch oder Englisch erhältlich.

Die räumlichen sowie transhistorischen Überlagerungen 1916/1917 und 2021, die veränderte Wahrnehmung von Zeitlichkeit in der Pandemie und das Experimentieren mit Formaten leiteten uns dazu an, gesellschaftliche und künstlerische Phänomene und Praktiken mit frischem Blick zu betrachten. Beispielsweise prägt(e) der Körperkult, der auf dem Monte Verità um 1900 praktiziert wurde, die Dadaist*innen und heutige (neoliberale) Körpertechniken. Durch aktuelle Fragestellungen zu Körperwissen lassen sich wiederum neue Aspekte der Avantgarde thematisieren, z. B. deren Naturalisierung des Körpers. Auf dem Münsterhof und seiner Nähe zu den bürgerlich geprägten Zunfthäusern und zum Paradeplatz, dem Herzen des Züricher Finanzkapitalismus, stellte ich mir die Frage, inwiefern sich politische Koordinaten im letzten Jahrhundert veränderten und wo Gegenkultur stattfinden kann. Je nach Perspektive kippt die Wahrnehmung, je nach Ereignis oder Prozess in der Geschichte, die verknüpft werden, zeigen sich andere Ansätze. Immer wieder kam mir im letzten Jahr die Denkfigur einer genealogischen Archäologie als kulturanalytische Methode in den Sinn. Damit meine ich, dass durch Verschiebungen, (geistige) Ausgrabungen und transhistorische Verbindungen Strukturen und Dynamiken freigelegt werden, welche Denkweisen und künstlerische Methoden zum Vorschein bringen, die teilweise auch unbewusst mitschwingen. Die Rückkehr an Orte und die Auseinandersetzung mit Vergangenem waren keine nostalgische Akte, sondern Ausgangslagen, um Anliegen und Ausdrucksformen aus der Perspektive der Gegenwart zu begegnen.

Die Spiegelgasse 1 wird instandgesetzt: Grundriss, Raumhöhe und Gusseisensäule als Dada-Erbe

Die ausgeführte archäologische Denkfigur findet ihren Ursprung in der tatsächlichen Freilegung der Trägerstrukturen durch die Sanierung. Mitte Januar 2021 bewilligte der Stadtrat den Kredit in Höhe von 3,112 Millionen Franken. Das Gebäude wies bau- und bewilligungstechnische Mängel auf, die zu einer Einschränkung des Betriebs geführt hätten. Wir kämpften mit Feuchtigkeitsproblemen und Geruchsemissionen, die Lüftung und die Heizung waren am Ende ihrer Lebensdauer angekommen. Ich durfte die Vorbereitungen zur Sanierung als Gast im Projektteam verfolgen, was auch inhaltlich interessant war. Beispielsweise erfuhr ich, dass das Haus bis ins 16. Jahrhundert aus zwei Gebäuden bestand. Das Haus zum Dammhirsch wurde 1402 erstmals erwähnt, das Haus zur Lilie bereits 1335. Erst 1577 wurde das Haus zusammengelegt. 1855 folgte der große Saal, in dem die Dadaist*innen 1916 ihre Künstler*innenkneipe eröffneten und der bis heute als Historischer Saal besteht. Untersuchungen an den Wänden des Saals ergaben, dass alle vorgefundenen Farbschichten aus der Zeit von 1950 oder später stammten. Aus der Dada-Zeit sind der Grundriss und die Raumhöhe, sowie, als merkwürdiges Detail, die Gusseisensäule in der Mitte des Saals, die seit 1885 die darüberstehende Hausfassade stützt und die bis in den Gewölbekeller hinunter reicht, erhalten geblieben.

Was mich seit den Vorbereitungen auf die Stelle als Direktorin beschäftigt, ist die Frage, wie ich mit einem Erbe umgehe, dass sich in Form einer Adresse, einem Grundriss und einer Säule präsentiert. Gerade die fehlende Sammlung oder der Mangel an sichtbaren Spuren machen die Aufgabe für mich interessant. Anstatt einer Sammlung verwalten wir das immaterielle Dada-Erbe an der historischen Adresse. Das schützt vor Nostalgie, unkritischer und enger Historisierung, einer Fixierung auf Teilbereiche oder Personenkult. Dada ist fluider. Dada war die Avantgarde-Bewegung, die dazu aufrief, Phänomene und Ereignisse ihrer Gegenwart zu befragen. So verstanden, bleibt Dada als künstlerische Methode zeitlos. Es werden neue Formen der Kooperation und Kritik gesucht, mit Aufführungen und Inszenierungen experimentiert, mit Objekten und Techniken gespielt oder nach Möglichkeiten der Teilhabe und des Imaginierens geforscht.

Jedoch kitzelt die Aura des Hauses und das Wissen darum, was sich in diesen Räumlichkeiten 1916 abspielte, bei vielen Künstler*innen, die etwas im Haus zeigen, neue Ideen hervor. Die Kulturschaffenden müssen sich sowohl der Geschichte als auch der Gegenwart stellen, fühlen sich aber durch das normsprengende Erbe angeregt, zu experimentieren. Ich war im letzten Jahr immer wieder berührt davon, wie sehr dieses Bewusstsein den künstlerischen Prozess sowohl präzisiert als auch befreit. Gerade die besonderen Räumlichkeiten, dieser Saal oder der mittelalterliche Gewölbekeller drängen dazu, die Zeitgenossenschaft gegenwärtig zu halten. Das Cabaret Voltaire ist kein White Cube.

März und April im Cabaret Voltaire: Vergangenheit, Zukunft und Humor überdenken – Soireen werden zu Ausstellungen und Online-Veranstaltungen

Im März wagte Samuel Haitz einen wichtigen Schritt in seinem Schaffen und initiierte im Cabaret Voltaire eine Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit. Der 1997 geborene Zürcher Künstler zeigte im Historischen Saal seine erste institutionelle Ausstellung Memorabilia und führte zwei begleitenden Soireen durch, die in Zusammenarbeit mit dem Berner Radio Bollwerk via radiobollwerk.ch ausgestrahlt wurden. Haitz zog erst kürzlich von Zürich nach Berlin. Ein Anlass, gelagerte Andenken in die Hand zu nehmen, Erinnerungen zu ordnen, zu bewahren und zu verklären.

Im Cabaret Voltaire versammelte er eigene Arbeiten, Werke von Freund*innen und Idolen sowie weitere Objekte, die Codes des Begehrens und der Zugehörigkeit widerspiegeln. Bei Haitz standen dabei auch Homosexualität, Künstler*innen-Netzwerke und ästhetische Referenzsysteme im Zentrum. Gerade hinsichtlich eines kulturellen Distributionssystems fanden seine Werke Anschluss an das Dada-Erbe. Einzelne künstlerischen Weggefährt*innen wie Milena Langer, Ian Wooldridge und Stella waren nicht nur mit Arbeiten in den Vitrinen präsent, sondern auch bei einem gemeinschaftlichen Lesen von eigenen Texten. In Soiree 1 (Before) widmeten sich die Künstler*innen der Hoffnung und der romantischen Utopie; Soiree 2 (After) fokussierte die nostalgische Reflexion von Vergangenem. Zum Abschluss interpretierte jeweils der befreundete DJ Moritz Müller die Veranstaltungen musikalisch.

Ebenfalls im März las Armen Avanessian Geteilte Zeit – Briefe an meinen Sohn. Der bekannte Philosoph schrieb diesen Text im ersten Lebensjahr seines Sohnes. Vielleicht erscheint die Schrift 2035 als Buch, vorerst rezitierte er diese persönlichen Zeilen aber nur im Cabaret Voltaire.

Via Lautsprecher übertrugen wir die Lesung für Passant*innen live auf die Spiegel- und Münstergasse. Zudem wurde die Lesung aufgenommen und im April in Kollaboration mit der Volksbühne Berlin gestreamt. Im Text schildert Avanessian den gemeinsamen Alltag mit seinem Sohn, die geteilte Gegenwart und adressiert seinen Sohn in der Zukunft. Aus stets konkreten Erfahrungen und Alltagsbeschreibungen entwickelte er Überlegungen zu ethischen, sozialen und philosophischen Fragen. Beispielsweise fragt sich Avanessian, was ein Anfang, Geburt und Beginnen sei, und warum die männlich dominierte Philosophie diese nur unzureichend fassen konnte? Was sind die Verengungen der klassischen Liebeskonzeptionen, und inwiefern weist Intimität uns einen anderen Weg? Was bedeutet es, heute Vater zu sein, eine Familie zu haben und ein Erbe weiterzugeben oder anzutreten (oder umgekehrt auszuschlagen, zurückzuschlagen und mit seiner Familie zu brechen)? Und inwiefern müssen wir nicht zuletzt auch Tod-und-Sterben-lernen – als vielleicht die klassischen Topoi philosophischer Selbstreflexion – nicht nur mit Blick auf nachfolgende Generationen, sondern aus deren zukünftiger Bedrohung der gesamten Gattung neu denken? Geteilte Zeit ist eine Flaschenpost aus einer bereits vergangenen Gegenwart.

Im April hatten wir die ursprünglich als Soireen geplante Ausstellungsreihe Cracking Up and Staging Down im Programm. Sie verstand sich als Möglichkeit, Funktionsweisen von Humor und seiner Inszenierungen zu erarbeiten. Im Cabaret Voltaire brennt diese Frage besonders, zumal die Dadaist*innen Humor, Ironie und Klamauk benutzten, um sich von den Zeitumständen abzusetzen. Während vier Wochen wurde im Cabaret Voltaire untersucht, inwiefern das grenzüberschreitende, soziale und kritische Potenzial des Lachens und der Comedy (noch) funktioniert. Ab jedem Dienstag bespielten Akteur*innen aus unterschiedlichen Künsten jeweils für eine Woche den historischen Saal mit Requisiten, Spuren, Werken, ihren Erkenntnissen und Dokumentationen. Die Reihe Cracking Up and Staging Downwurde mit Martina Mächler und Anastasia McCammon organisiert. Im ersten Akt Tickle and Tackle Stand Up blickten Kasia Fudakowski und Francesca Hawker hinter die Bühne und exponierten Rituale und Regeln. Fudakowski fokussierte den ›Joke Gap‹ anhand des Lebens und der Rollen der Komikerin und Schauspielerin Elisabeth Wellano alias Liesl Karlstadt (1892–1960). »Ein Witz kann als entbehrliches soziales Kapital gesehen werden. Historisch gesehen, musste sich eine Frau erst als seriös etablieren, bevor sie in einen Witz investieren konnte« (Fudakowski). Francesca Hawkers Wunsch, »das ungeliebte Gesicht zu erfreuen« (Anne Boyer), wurde durch die leere Bar, die sie erwartete, konterkariert. Ihre Aufmerksamkeit richtete sie deshalb auf das Herstellen und Zerbrechen von alternativen Genussmitteln. Hawker zeigte ihren Spaghetti Film, Bar-Skulpturen im Raum und ein Gedichte-Menü.

Im zweiten Akt Slapstick and Laughters widmeten sich Dimitris Chimonas und Shinichi Iova-Koga Kippformen und Displays menschlicher Emotionen jenseits des Verbalen. ›Slapstick‹ verweist auf die filmischen Ursprünge im Stummfilm und den Humor als Mittel zur Darstellung von Schmerz und Verletzlichkeit. Der Tänzer Shinichi Iova-Koga erforschte im Cabaret Voltaire unter dem Titel Collapsible Voltaire den Slapstick-Humor, die körperbasierte, meist wortlose und in Iova-Kogas Fall taktile Form der Komödie. Dimitris Chimonas’ zwei Filme handelten von der Lächerlichkeit der menschlichen Performativität von Emotionen. In den Nuancen aktueller Situationen geht das Weinen oft in ein Lachen über.

Auch die dritte Soiree von Cracking Up and Staging Down wurde zur Ausstellung, mit Didi da da da, current parrotingund ein weiblicher Humorist namens Kobold. Karolin Braegger, Johan Ahlkvist, Hedda Bauer und Anastasia McCammon nutzten das Nachplappern und Imitieren als Alltagskomik, um sich den Menschen zu nähern und körperbestimmende Mechanismen offenzulegen. Wiederholung und Aneignung schaffen immer eine Distanz zum ursprünglichen Gebrauch und verschieben die Bedeutung. Im Raum waren Objekte und Kostüme zu sehen, die aus diesen Auseinandersetzungen hervorgingen.

August bis Oktober: ›Re-Visit‹. Songs to the Suns – Das Cabaret Voltaire auf dem Monte Verità. Der Körper als Archiv und Ort der Emanzipation

Nach Cracking Up and Staging Down wurde das Cabaret Voltaire ausgeräumt, noch im Mai begannen die Bauarbeiten. Für uns starteten damit die aufregenden ›Re-Visits‹ auf dem Monte Verità und dem Münsterhof. Erster Halt war Ascona im Tessin. Der dortige Monte Verità gilt – wie das Cabaret Voltaire – als einer der wichtigsten Orte der Avantgarde, sei es in Kunst, Theorie oder Lebensführung. Es erstaunt daher nicht, dass Künstler*innen um den Züricher Dada-Kreis ihre Sommer auf dem Hügel in Ascona verbrachten, der als Zentrum der Lebensreform-Bewegung galt. Sophie Taeuber-Arp, Emmy Hennings, Hans Arp oder Hugo Ball besuchten Rudolf von Labans Kurse, tanzten, veranstalteten Ausstellungen und Feste. Sowohl im Cabaret Voltaire als auch auf dem Monte Verità war die Befreiung von körperlichen und sprachlichen Konventionen zentral. Die Lebensreform strebte danach, die Gesellschaft durch Vegetarismus, Ausdruckstanz, Naturheilkunde, Licht- und Luftbäder, Freikörperkultur und Reformkleidung aus dem steifen Korsett bürgerlicher Zwänge zu befreien. Im Fokus ihres ›dritten Weges‹ zwischen Kapitalismus und Kommunismus stand das Individuum, der Körper und eine möglichst ›naturnahe‹ Lebensweise. Die Kritik der Lebensreform am Fortschritt und ihr Interesse an der mythischen Vergangenheit fanden später auch Eingang in faschistoides Gedankengut. Zahlreiche lebensreformerische Ideen leben in heutigen Industrien um Selbstoptimierung und Gesundheit weiter. Sie treten aber auch dort auf, wo das Denken durch den Körper und seine Bewegungen gesellschaftliche Kategorien weiter herausfordern will – und sicherlich bei der Suche nach alternativen und gemeinschaftlich organisierten Lebensmodellen. Die Parameter um Bürgerlichkeit, Identität und Wissen haben sich allerdings geändert und müssen aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Unser Projekt Songs to the Suns vereinte holistische und fragmentierte Ansätze, suchte eine Mehrstimmigkeit, die binäre Denkweisen im Hinblick auf Natur und Kultur, Geschlecht und Herkunft beanstandete. Im Zentrum stand der Körper als Archiv und Ort der Emanzipation.

Trotz der langen Anreise und der etwas dezentralen Lage fanden sehr viele Besucher*innen ihren Weg auf den Monte Verità. Einerseits aufgrund des Zusammentreffens dieser zwei für die Avantgarde wichtigsten Orte in der Schweiz. Andererseits aufgrund des Programms: Mit Izidora L. LETHE und Paul Maheke lud das Cabaret Voltaire zwei zeitgenössische Künstler*innen für die Kooperation mit dem Kulturzentrum Monte Verità ein. Am Gespräch beteiligten sich Christa Baumberger, Sophie Doutreligne und Minna Salami.

Izidora L. LETHE legte den Fokus auf die Vorstellungen der Lebensreform von Bewegung, Körper und Freiheitsideen, die nach LETHE zu normiert sind und den das Wissen des queeren, weiblichen, non-binären/trans*-, postmigrantischen und postkolonialen Körpers nicht mitdachten. Im oberen Stock der Casa dei Russi zeigte LETHE Zeichnungen, die als Notationen von Körperlichkeit zu verstehen sind. Es sind körperliche und recherchierte Auseinandersetzungen der Künstlerin*; performative Erfahrungen/Erinnerungen, die sich fast gänzlich der Figuration entziehen. Damit widersetzt sich LETHE dem geometrischen Denken Rudolf von Labans, der mit seiner Labanotation versuchte, den Körper durch ein Raster lesbar zu machen und einzuordnen. LETHE sucht stattdessen nach Qualitäten der Bewegung und des Denkens in Bewegung, die es erlauben, latentes oder übersehenes Vokabular des Körpers neu zu verhandeln. Als Weiterführung der Zeichnungen wurde am Eröffnungstag eine Choreographie/Intervention gezeigt, die sich über das ganze Gelände verteilte. Sie wurden von ›Tänzer*innen‹ im weitesten Sinne aufgeführt – Menschen, die eine Offenheit und einen Zugang zu ihrem Körperwissen haben und suchen. Mitgewirkt haben Val Minnig, Stéph, Nina Emge, Jovin Joëlle Barrer, Hermes Schneider, Donya Speaks und Claudia Barth. Yantan Ministry trug einen Audio-Teil bei.

Paul Mahekes künstlerisches Interesse gilt dem sozialen Konstrukt der Körperlichkeit, dem Unsichtbaren und den Kräften, die unsere Körper und Identitäten beeinflussen und informieren. Wie bei den Avantgardist*innen funktioniert der Körper nicht mehr nur als Instrument der ästhetischen Repräsentation, sondern verwandelt sich in eine Quelle der Erfahrung und Befreiung. Kunst wird zur Katharsis an einem Ort, der für Gegennarrative und kollektive Auseinandersetzungen offen war. Der Künstler zeigte im Poolbereich, dem Spazio Piscina, eine Installation aus mit Textfragmenten bedruckten Stoffbahnen, in der er am Eröffnungsabend auch performte. Die Solo-Performance Taboo Durag (2021) näherte sich dem Thema des persönlichen Traumas und der Heilung, der porösen Schnittstelle zwischen Verletzlichkeit und Widerstandsfähigkeit. Für die Performance trug Maheke einen Durag, ein Kopftuch afrikanischer Herkunft, das seit den 1970er-Jahren Teil der afroamerikanischen Jugendkultur ist und von der weißen Mainstream-Kultur in einen rassistischen Signifikanten verwandelt wurde, der mit Gang-Kultur und Gefangenen assoziiert wird. Maheke versuchte so, die in die Kleidung eingeschriebenen Zeichensysteme zu demontieren – eine Auseinandersetzung, die sich auch auf die Reformkleidung um 1900 übertragen lässt.

Die Ausstellung, Installation und Performances wurden von einem Gespräch mit Christa Baumberger, Sophie Doutreligne und Minna Salami ergänzt. Sophie Doutreligne untersucht in ihrer Dissertation weibliche Dada-Performances im Cabaret Voltaire und auf dem Monte Verità. Indem die Kunstgeschichte den Text und die Fotografie gegenüber Bewegung und Prozessen priorisiert, fielen die weiblichen (und nicht-männlichen) Tanzkörper aus dem Blickfeld. Doch gerade durch ihre körperlichen Interventionen kritisierten Sophie Taeuber-Arp, Emmy Hennings oder Suzanne Perrottet die herrschenden Konzepte von Logik und Identität. So rebellierte Sophie Taeuber-Arp gegen den patriarchalischen Diskurs mit maskierten Tänzen, die es ihr ermöglichten, ihre Identität zu verbergen und ihren Status als Künstlerin nicht darauf zu reduzieren, diese weibliche ›Andere‹ zu sein.

Christa Baumberger hat zu Dada geforscht, ist Mitherausgeberin von zwei Prosabänden der Emmy-Hennings-Werkausgabe im Wallstein Verlag und war von 2009 bis 2018 als Kuratorin des Nachlasses von Emmy Hennings, Friedrich Glauser und Robert Walser am Schweizerischen Literaturarchiv tätig. Sie führte zum Thema Dada und Ascona ein. Die Gedanken der Journalistin und Autorin Minna Salami, die kürzlich ihr vielbeachtetes Buch Sensuous Knowledge: A Black Feminist Approach for Everyone veröffentlichte, schlugen die Brücke zwischen dem historischen Erbe und den künstlerischen Interventionen von LETHE und Maheke. Sie analysiert unter anderem das europatriarchale Wissen als eine Weltanschauung, die im Kern Fragmentierung, Polarisierung und Spaltung sieht. Holistische Ansätze würden dieses trennende Denken zwischen ›Races‹, Klassen, Geschlechtern oder der nicht-menschlichen natürlichen Welt und dem Menschen stören. Ihre Ausführungen können auch Denkvorlage für den Umgang der Dadaist*innen und der Lebensreform mit nicht-westlichen Kulturen sein. Sowohl die Dadaist*innen als auch Laban suchten bei anderen Kulturen nach rituellen und ursprünglichen Qualitäten, reflektierten ihren eigenen Status dabei allerdings nicht mit. Ihre ›natürliche Körperlichkeit‹ muss als sehr westlich und binär verstanden werden, die zu einer Vervollständigung des (westlichen) Menschseins beitragen sollte.

Ende August/Anfang September: »Laube zur schiefen Lage« – Das Cabaret Voltaire auf dem Züricher Münsterhof. Das Spannungsfeld zwischen antibürgerlichen Gesten und bürgerlicher Kultur

In der Woche nach der Eröffnung auf dem Monte Verità – die Installationen blieben noch bis zum 2. Oktober stehen – begann bereits der Aufbau auf dem Münsterhof. Die »Laube zur schiefen Lage« stand etwas verquer auf dem Züricher Münsterhof – ein zusammengezimmertes Kunstobjekt, das zugleich als Ausstellungsfläche und Bühne diente. Es befand sich in unmittelbarer Nähe zum Zunfthaus zur Waag, in dessen großem Saal am 16. Juli 1916 die erste Dada-Soirée nach der Schließung des Cabaret Voltaire stattfand. Die Zunfthäuser waren damals einige der wenigen Orte, die für kulturelle Veranstaltungen bespielt werden durften. Der Freisinn war bis zur breiten Verbürgerlichung ab dem Generalstreik von 1918 anders ausgerichtet, galt als besonders staatstragend und zugleich offen. Mit dem Schritt in die Zunfthäuser wurde auch Dada bürgerlicher. Der Verkauf der Karten für die Soiree lief etwa über das Reisebüro Kuoni und das Musikhaus Hug.

Im Zunfthaus zur Waag erläuterten die Dadaist*innen ihre Zeichnungen, trugen Manifeste vor oder tanzten in Masken. Über 100 Jahre später bespielte das Cabaret Voltaire das Zunfthaus aus naher Distanz mit einer eigenen Bühne. Für den Zeitraum von knapp zwei Wochen wurde die »Laube zur schiefen Lage« zu einem öffentlichen Ort im Spannungsfeld von antibürgerlichen Gesten und bürgerlicher Kultur, Weltbezug und Weltflucht, Gemeinschaftlichkeit und Individualität, dem Kleinen und dem Großen.

Das Grundgerüst der »Laube zur schiefen Lage« stammte vom Künstler Benedikt Bock, der das Projekt gemeinsam mit dem Cabaret Voltaire konzipierte. An drei Abenden (27. und 28. August sowie 4. September) zeigten eingeladene Künstler*innen, Autor*innen und Musiker*innen Kurzbeiträge. Es entsteht ein buntes Geflecht aus zeitgenössischen Narrativen, die direkt oder subtil, kritisch oder humorvoll das Menschsein in diesen allgemein schrägen Zeiten reflektieren. Im Fokus stand aber auch die Reflexion über das ›Contemporary‹ als enge, normative ästhetische Praxis in der zeitgenössischen Kunst.

Die »Laube zur schiefen Lage« spielte dabei besonders mit dem Genre der ›Kleinkunst‹, worauf schon die Dadaist*innen mit dem ›Cabaret‹ Bezug nahmen: Das Cabaret als ein gesellschaftskritischer (linker) Ort, der über die Unterhaltung hinausgeht und dabei die Grenzen der Hochkunst mitbefragt. Außerhalb des White Cube zeigen sich gewisse Auseinandersetzungen in einem anderen Licht und treffen auf ein breiteres Publikum. Die »Laube zur schiefen Lage« artikuliert sich in dieser Verschiebung und ermöglicht Raum für Zweifel. Kunstschaffen ist stets eng verbunden mit Verletzlichkeit und der Frage, was mitgeteilt wird oder verborgen bleibt.

Karolin Braegger fragt inmitten der Zunfthäuser und der effizienten Geschäftigkeit, was es heißt, zu ›performen‹. Sie denkt in ihrer künstlerischen Praxis vom Begriff der Aneignung aus darüber nach, was es (noch) zu sagen gibt: sei es als Gastgeberin oder mit Malereien und Stoffobjekten. Als Gastgeberin lud Braegger Positionen ein, die ihre Interessen repräsentieren und ihre Arbeiten erweitern, wie das queere Powerplay Dynamic Resistance von Hedda Bauer und Johan Ahlkvist.

In der Arbeit untersuchten die Künstler*innen mithilfe der Performer*innen Hilma Bäckström, Charlotta Öberg, Luca Büchler, Jessica Comis und Alexandra Paya Themen wie Unsichtbarkeit, inklusive Unterhaltung und exklusive Teilhabe. Die Kostüme, wovon eines in der Laube hängt, sind so gestaltet, dass sie den Raum widerspiegeln, zu dem sie Bezug nehmen – in diesem Fall das Cabaret Voltaire und den Münsterhof. Die Züricher Künstlerin Johanna Kotlaris zeigteAware-Wolf. In der Performance untersuchte sie als tragisch-komische Närrin, wie wir uns in der Begegnung mit der Welt, mit uns selbst und anderen definieren.

Marius Goldhorn, Autor des vielbesprochenen Romans Park, schrieb für die Laube den Vortrag Über den Aussterbenstrieb (August 2021). Themen des Textes sind das Aussterben, der Aussterbenstrieb und der Aussterbesinn. Claudia Stöckli und Raphael Stucky zogen in ihrem Totentanz die Auseinandersetzung mit Auflösung und Neuanfang weiter. Die Künstler*innen beginnen mit einem Knochenorakel, das eine Situation schafft, um über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu reflektieren.

Miriam Stoney untersuchte in ihrer Lesung verschiedene Ebenen des Spracherwerbs und geht der damit verbundenen Frage nach, inwiefern eine Sprache das Selbst aktiv prägt. Der Künstler Benedikt Bock, der 2021 sein zweites BuchVögel/Birds bei Texte zum Nachdenken veröffentlicht hat, dachte von Teilhabe und Exklusion aus. Im Text Sabine zeichnet er die Geschichte um den fiktiven Züricher Zeitungsverkäufer Urban Lenti, der von seiner Familie als Spezialfall bezeichnet wird, weil er für alles zu langsam ist. Lenti entwickelt sich zu einer Figur am Rand der Gesellschaft, die tagein tagaus das abstrakte Treiben an der Bahnhofstrasse beobachtet und am Ende durch den Sturm Sabine mit einem antikapitalistischen Schauspiel belohnt wird. Während den Lesungen und Performances hing Anne Fellners Malerei im Hintergrund. Zwei Detektiv*innen sind schematisch abgebildet und verschmelzen mit den expressiven Spuren der Künstlerin. Das Gemälde korrespondiert mit der präsentierten nullten Episode TBH – a mysterious hypnotist on the loose: ein Hörstück, das live auf dem Münsterhof zu hören war.

Am letzten Abend konnte Kasia Fudakowski endlich die Performance zum ›Joke Gap‹ aufführen. Zuvor zeigten wir die Texte und Kostüme dazu im Cabaret Voltaire. Der ›Joke Gap‹ kann auch über die feministische Implikation verstanden werden: Das, was als lustig wahrgenommen wird, verändert sich je nach historischem Kontext, Lebensalter oder Kulturkreis. Fudakowskis Performance wechselt zwischen Leichtigkeit und schmerzhaften Momenten, unterstützt von gemalten Kostümen, die Liesl Karlstadt und Karl Valentin zum Leben erweckten.

Oktober bis Dezember: Dada Georgien, Publikation und Vorbereitungen auf die Wiedereröffnung 2022

Gewissermaßen als Abschluss der ›Re-Visits‹ und zugleich als Beginn einer Zusammenarbeit brachten wir pünktlich zur Eröffnung des neuen Kunsthauses den Pocket Guide Dada Stadt Zürich in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus heraus. Neben der problematischen Bührle-Sammlung beherbergt das Kunsthaus auch eine der wichtigsten Dada-Sammlungen. Darüber hinaus befindet sich im Neubau des Kunsthauses ein Dada-Kabinett mit einer kleinen Wechselausstellung. Der Pocket Guide verbindet diese Sammlung und das Cabaret Voltaire als Geburtsort von Dada, führt die Leser*innen aber auch an weitere Dada-Spielstätten, die das Milieu und die Orte zeigen, in denen Dada entstand und wirkte. Mit dem Pocket Guide kann die Dada-Stadt Zürich selbstständig – oder bei Führungen, die wir anbieten – erkundet werden. Damit stellt das Buch einen Abschluss der ›Re-Visits‹ dar. Im Guide finden sich Informationen und Bilder, die nicht einfach online nachgelesen werden können. Der Pocket Guide markiert auch den Start einer andauernden Kollaboration mit dem Kunsthaus Zürich. Ab der Wiedereröffnung 2022 befinden sich im 3-Monate-Turnus unterschiedliche Originaldokumente aus der Dada-Sammlung im Cabaret Voltaire. Es sind Texte, Flyer oder Briefe, die nicht im Dada-Kabinett gezeigt werden, teilweise als B-Seite der Sammlung gelten und so die Frage nach der Funktionsweise von Wertzuschreibung eröffnet. Die Präsentation einzelner Dokumente eignet sich auch dazu, diese genauer zu besprechen und sowohl positive als auch kritische Aspekte hervorzuheben.

Das Dada-Erbe stand ebenfalls im Oktober in der Veranstaltung Georgischer Modernismus und Dada in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Zürich und dem Verein Georgische Kulturplattform im Zentrum. Die Kunsthistorikerinnen Nino Tchogoshvili und Irine Jorjadze erläuterten Entwicklung und Bedeutung von Modernismus, Futurismus und Dada in der georgischen Kunstszene. Anschließend an die Vorträge und den Talk wurde der Filmklassiker Chemi bebia (1929) gezeigt, eine Satire auf die sowjetische Bürokratie.

Gegen Ende des Jahres wurden die Vorbereitungsarbeiten für die Wiedereröffnung Anfang April 2022 immer dringlicher. Ich freue mich, auch 2022 dem Auftrag nachzugehen, wie das Dada-Erbe lebendig bearbeitet werden kann. Teil davon sind weitere geistige Ausgrabungen, transhistorische Reisen und das Imaginieren davon, was Dada in der Gegenwart wäre, was sogleich schon ein Entwerfen in die Zukunft ist: Reflexion ist immer verknüpft mit der Frage, in welche Richtung die Denkarbeit gehen soll.

Salome Hohl

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