09.01.2023

Das Haus steht in Flammen, der Kunstraum wird zum Brutkasten

Wiedereröffnung des sanierten Cabaret Voltaire in der Vielfachkrise. Ein Jahresbericht der Direktorin

Erste Eröffnungsetappe in der Walpurgisnacht. Phönix zieht durch die Räume

Ungefähr 1.500 Menschen strömten am 30. April 2022 in das frisch sanierte Cabaret Voltaire. Die Gassen und Räume waren zum Bersten voll (Abb. 1). Knapp ein Jahr war das Cabaret Voltaire zuvor aufgrund der umfassenden Instandsetzung geschlossen geblieben.

Die Räumlichkeiten hatten erhebliche bau- und bewilligungstechnische Mängel aufgewiesen, weshalb Lüftung, Heizung und Elektroinstallationen erneuert und Brandschutzbestimmungen angepasst werden mussten. Die Besucher*innen betraten das Gebäude an diesem Abend vor allem über den Haupteingang an der Münstergasse, wo auch gleich die größte architektonische Überraschung auf sie wartete. Dort, wo sich bisher Treppe, WC-Eingang, Bibliothek oder noch früher der Shop befanden, steht neu hinter einem kleinen Büchershop eine Bar, die über eine künstlerisch bespielte Sitzecke ragt. Der Treppenaufgang wurde in die Mitte des Gebäudes rückverlegt. So können die Räume künftig flexibler und separat voneinander genutzt werden. Von diesem Eingangsbereich – der sogenannten Künstler*innenkneipe – führt eine Treppe in den Ausstellungsraum in den Gewölbekeller und eine weitere hinauf zum Historischen Saal, der wiederum mit der Dada-Bibliothek verbunden ist. Zur Zeit der Dadaist*innen sollen die Stockwerke ähnlich begehbar gewesen sein.

Wir feierten an diesem 30. April die erste Etappe der Wiedereröffnung – und dies in der Walpurgisnacht. Ein dankbarer Zufall, zumal die Einweihung des Phoenix Philosophy Café (Abb. 2) der Künstlerin Ilaria Vinci in der Künstler*innenkneipe auch zum Feuertanz einlud. Vinci ging in ihrer Ausstellung, die zugleich als Sitzbereich genutzt wird, von einer besonderen Form von Feuerstelle aus, die ihren Ursprung in Süditalien um 1900 hat: Eine Art Wohnnische, in der sich Menschen versammeln, Geschichten austauschen, debattieren, essen, trinken oder spielen. Die teilweise leicht angebrannten Möbel, die die Künstlerin für die Ausstellung durch gekonnte malerische Effekte schuf, unterstreichen diese Referenz. Überall in der Ausstellung sind Verweise auf die Figur des Phönix’ zu finden. Der mythologische Vogel wurde zur Metapher für Wiedergeburt und Resilienz, soll aber auch als Anstoß fungieren, um über die Rolle von Individuen im Kollektiv nachzudenken. Phönix, ein singuläres Fabeltier, traf die Entscheidung, das eigene Nest anzuzünden und hineinzusteigen. Es verbrannte und wurde schließlich wiedergeboren.

Im Anschluss daran kann der Kunstraum für Ilaria Vinci als Brutkasten verstanden werden: In der Auseinandersetzung mit großen, existenziellen und zeitübergreifenden Fragen reifen Impulse für Veränderungen. Die Redewendung ›wie Phönix aus der Asche‹ steht aber auch für den Zusammenbruch eines alten Systems und das Aufkommen alter Werte im neuen Gewand – im Dada-Haus und dem Kontext damaliger und aktueller Ereignisse zwischen Krieg in Europa und Pandemie eine bemerkenswerte Referenz.

An diesem ersten Eröffnungsabend erfasste das Phoenix Philosophy Café nicht nur die Künstler*innenkneipe: Angebrannte Möbel standen auch in weiteren Räumen, projizierte Flammen loderten im Gewölbekeller (Abb. 3) und im Historischen Saal, während Vincis trinkbare Skulptur Smoky Tear (Abb. 4) die Gesellschaft einräucherte. Phönix zog von Raum zu Raum, entfachte Feuer, das wieder erlosch und sich an einem anderen Ort entzündete. Den ewigen Kreislauf weiterdenkend, widmeten sich die Beiträge unter anderem dem Sampling. Die Performance When Darkness (Abb. 5) verstand sich als Teil der Ausstellung von Vinci und setzte sich zusammen aus einem Live-Soundpiece von Rafal Skoczek und Jamira Estrada, das als Soundtrack zur Ausstellung Phoenix Philosophy Café bestehen bleibt, und einer Tanzperformance der Gruppe Stay Kids (Abb. 6, mit Ave, Sunny, Tiny, Mary, Anaïs, Arun und Milo) mit Kostümen von Ronja Varonier. Abwechslungsweise waren im Historischen Saal und im Gewölbekeller zudem DJ-Sets und Performances von Bela Winnewisser (DJ-Set), Lateena Plummer (Performance und DJ-Set) sowie TVBXS (DJ-Set) zu hören.

Das Haus steht in Flammen – Was tun?

Das Haus stand also in Flammen: nicht nur im Zeichen der Ausstellung von Vinci und zur Einweihungsgeste in der Walpurgisnacht, sondern auch in Referenz auf dringende Themen der Gegenwart wie Neo-Faschismus oder Klimakrise, für die Greta Thunberg die Analogie »Das Haus brennt und die Politik füttert die Flammen« prägte. Nur knapp zwei Monate vor der Eröffnung brach Krieg in Europa aus, Russland griff die Ukraine an. Und so manchmal holte mich die leninistische Frage »Was tun?« ein, in der das Echo von gescheiterten Zukunftsentwürfen bereits nachhallt. Im Unterschied zu den meisten Avantgardist*innen scheinen zeitgenössische Künstler*innen nicht den radikalen Bruch zu suchen. Es beschäftigt vielmehr das Wiederkehrende und die bittere Vermutung, dass Menschen nicht aus Katastrophen lernen, wie das auch Srećko Horvat in seinem von der Universität Zürich organisierten Vortrag Catastrophe or Revolution? vom 3. November im Cabaret Voltaire erörterte Das fortlaufende gemeinsame Tun und Denken ist dann wohl auch der tröstende Aspekt des Dada-Erbes: sprich Sinn im stetigen Befragen und Entwerfen zu finden, im Wissen darum, dass das Fundament, auf das die zivilisatorischen Bausteine geschichtet werden, nie solide sein wird. Die ruhenden Steine müssen in einem andauernden Lernprozess stets umgedreht, neu betrachtet und kombiniert werden. So zumindest würde ich die gegenwärtige Hausformel beschreiben, wenn es um den Umgang mit Geschichte im Kontext des avantgardistischen Erbes geht.

Die Ambivalenzen der Moderne treffen auf aktuelle Diskurse: ektor garcia, Mai-Thu Perret, Sophie Taeuber-Arp und die Dada-Vitrine im Gewölbekeller

In einen gemeinsamen Lernprozess einzusteigen, bedeutet im Cabaret Voltaire auch, dass im Gewölbekeller historische Dada-Themen oder Progatonist*innen auf zeitgenössische Künstler*innen und aktuelle Diskurse treffen. Den Anfang machte der in Mexiko lebende Künstler ektor garcia mit seiner Schau nudos de tiempo (Abb. 7), die vom 20. Mai bis zum 25. September lief und die ich als kollaborativen Akt mit dem Kurator Fabian Flückiger co-kuratierte. Nach der Einweihung im April fand mit garcia die zweite Etappe der Eröffnung statt, bei der zur Preview auch die Stadtpräsidentin Corine Mauch eine Rede hielt.

ektor garcia schafft in seinen Installationen – ganz im Sinne der beschriebenen Hausformel – mithilfe unterschiedlicher Materialien und Techniken kunsthandwerkliche Landschaften als ein temporäres Gefüge, das jederzeit weiterverarbeitet werden kann. Im Nebeneinander funktionierten die gehäkelten Textilien, Kupferdrahtverbindungen, Keramikformen oder Metallgüsse im Cabaret Voltaire wie Freiform-Gedichte, die immer neue Resonanzen erzeugten. Aus Wiederholung, Rhythmus und Überlagerung ergaben sich neue Bedeutungen, die sich verknoten und jederzeit wieder auflösen konnten, wie der Ausstellungstitel nudos de tiempo (Knoten der Zeit) implizierte. garcia folgte hier der US-amerikanischen Bildhauerin Barbara Chase-Riboud, die im Gedichtband Everytime a Knot Is Undone, a God Is Released ausführt, dass jede Auflösung eines Knoten einen neuen Sinn kreiert. Die sinnliche Installation brach mit Erzählformen, die ein bestimmtes Narrativ transportieren will, ohne geschichtsvergessen zu sein – beispielsweise im Hinblick auf Textilien als Kommunikationssysteme: Die Quipu, eine Knotenschrift aus dem Inkareich, diente ab dem 7. Jahrhundert als ausgeklügeltes Zählsystem und als einfache Form der Korrespondenz. Textilien waren auch in der jüngeren Vergangenheit ein wichtiges gesellschaftspolitisches Sprachrohr. Dies bringen beispielsweise die Patchworkbilder Arpilleras zum Ausdruck, welche die Unterdrückung während der Pinochet-Diktatur in Chile in Textbildern transportierten oder das AIDS Memorial Quilt in den USA, bei dem den sozial ausgegrenzten Opfern gedacht wurde.

Gerade im Spiel mit Normen und der Gleichzeitigkeit von Offenheit und Sinnsuche findet garcias Praxis Anschluss an das Dada-Erbe. Die Dadaist*innen bewegten sich im Wunsch, Konventionen zu überwinden und neue Ausdruckformen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, Planung und Zufall, Sinn und Unsinn, Chaos und Ordnung, Prozess und Manifestation zu finden. Dazu bedienten sie sich Materialien, die zuvor nicht der Kunst zugeordnet wurden, verschrieben sich dem Prozess, dem Mit- und Nebeneinander und griffen auf Kulturerzeugnisse nicht-europäischer Kulturen zurück. Trotz damaliger progressiver Haltung weist ihr Tun blinde Flecken auf. Beispielsweise vereinnahmten sie ›das Andere‹ für eigene Zwecke, partizipierten am problematischen westlichen Diskurs von Wildheit vs. Zivilisation und ignorierten, dass ihre Referenzobjekte durch Kolonialisierung verfügbar wurden.

Die Thematik der kulturellen Aneignung nahm deshalb die Präsentation in der Dada-Vitrine auf (Abb. 8), die aus einer Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Zürich entstand. Die Dada-Vitrine wird alle drei Monate mit neuen Exponaten aus der Dada-Sammlung des Kunsthauses Zürich bestückt. Die Vitrine soll den fortlaufenden Prozess unterstützen, von Dada zu lernen und Dada zu reflektieren, und zu merken, welche Kontinuitäten und Brüche durch das Gegenüber von historischen Exponaten und zeitgenössischen Beiträgen entstehen. In der ersten Auswahl zeigten wir einen Auszug aus dem Katalog zur Ausstellung Das Neue Leben, die 1919 im Kunsthaus stattfand. Des Weiteren war unter anderem ein von Hans Richter gezeichnetes Porträt Han Corays ausgestellt. Coray war ein wichtiger Förderer der Dadaist*innen und wahrscheinlich erster Schweizer Sammler afrikanischer Objekte.

Seit Oktober 2022 sind Werke von Sophie Taeuber-Arp in der Dada-Vitrine zu sehen, ausgeliehen vom Kunsthaus Zürich, dem Museum für Gestaltung sowie privaten Leihgeber*innen. Sie sind Teil der Ausstellung Ich bin wü ü ü ü ü ü ü tend mit Sophie Taeuber-Arp und Mai-Thu Perret, die nach ektor garcias Ausstellung bis Ende April 2023 im Gewölbekeller zu sehen ist. Ausgangspunkt waren die von der Zentralbibliothek Zürich angekauften Briefe Sophie Taeuber-Arps, die jüngst in einem Editionsprojekt von Medea Hoch, Walburga Krupp und Sigrid Schade untersucht wurden. Bisher bezog sich die kunsthistorische Rezeption auf Erinnerungen von Hans Arp und Weggefährt*innen. Mit den Briefen kann erstmals die ›eigene‹ Sicht der Künstlerin und ihr Referenzsystem rekonstruiert werden. Denn obwohl auf der alten 50-Franken-Banknote abgebildet, blieb Sophie Taeuber-Arp, wie so vielen Frauen* im Dadakreis, eine breite gesellschaftliche Anerkennung lange verwehrt. In den letzten Jahren wurde viel unternommen, um ihr Œuvre zu würdigen, unter anderem mit der Retrospektive Gelebte Abstraktion, die 2021 von Basel (Kunstmuseum) nach London (Tate) und New York (MoMa) wanderte. Trotzdem gilt es, das komplexe Werk der Künstlerin zwischen angewandter, bildender und darstellender Kunst weiter zu ergründen. Es stellen sich viele kunsthistorische und kulturanalytische Fragen, die auch heute noch aktuell sind: beispielsweise zu Abstraktionsverfahren oder Konzepten von Künstler*innenschaft im Kontext von Gattungshierarchien, Geschlechterzuschreibung oder Demokratie.

Im Cabaret Voltaire treten Sophie Taeuber-Arps Briefe, vereinzelte Arbeiten (beispielsweise eine noch nie gezeigte Kette im Besitz von Johanna Lohse) sowie Zeugnisse ihrer Tätigkeit als Lehrerin für textilen Entwurf in der Kunstgewerbeschule Zürich in den Dialog mit Werken der Genfer Künstlerin Mai-Thu Perret (*1976) (Abb. 9 und 10). Perrets multidisziplinäres Schaffen verbindet feministische Anliegen, literarische Referenzen und Fragen zu Kunsthandwerk mit den Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Dabei stehen sowohl politische als auch formale Fragen zu Materialität im Vordergrund. Dada und speziell Sophie Taeuber-Arp stellen eine wichtige Inspirationsquelle für Perrets Schaffen dar. Neben älteren Werken, die Taeuber-Arp zitieren, zeigt die Ausstellung im Cabaret Voltaire neue Arbeiten der Künstlerin. Unter anderem übersetzt Perret ein von Taeuber-Arp entworfenes Übungsblatt aus dem Unterricht für textile Berufe in eine Neonarbeit. Damit überführt Perret eine weiblich konnotierte Formsprache sowie Muster aus dem Textilhandwerk in ein Medium, das der männlich dominierten Minimal-Art-Tradition folgt. In Anlehnung an das genealogische Interesse Perrets für Fiber Art sind in der Ausstellung auch Arbeiten von Schüler*innen Taeuber-Arps zu sehen, wie Elsi Giauque und Gertrud Sonderegger.

Die vielfältigen Formate im Cabaret Voltaire – Künstler*innenkneipe und CV Books im Eingangsbereich, Wechselausstellungen und Dada-Vitrine im Gewölbekeller, Soireen im Historischen Saal, Bücher und Werke von Stefan Burger in der Dada-Bibliothek

Die Ausstellungen im Gewölbekeller sind vor allem für den Tagesbetrieb wichtig. Von 13.30 Uhr bis 18.00 Uhr steht die Vermittlung des Erbes und der aktuellen Ausstellungen auf dem Programm. Somit funktioniert die Bar im Eingangsbereich an den Nachmittagen auch als Willkommensdesk und Vermittlungsstation für die verschiedenen Angebote im Haus. Neben den Ausstellungstexten bieten wir am Empfang auch einen Audio Guide an. Ebenfalls im Eingangsbereich ist CV Books zu finden: Eine wechselnde Auswahl an Kunstpublikationen für das Cabaret Voltaire, kuratiert von Jan Steinbach im Austausch mit dem Cabaret-Voltaire-Team. Unter anderem sind dort auch die zwei Publikationen Pocket Guide Dada Stadt Zürich und Emmy Hennings / Sitara Abuzar Ghaznawi erhältlich, die das Cabaret Voltaire 2021 und 2022 publizierte.

Wichtig für den Tagesbetrieb ist zudem die Dada-Bibliothek (Abb. 11) im vorderen Bereich im Obergeschoss. Hier können Besucher*innen in den zahlreichen Büchern zu Dada, den Dada-Künstler*innen und -Standorten stöbern oder arbeiten. Ebenfalls zur Bibliothek gehört neu ein Recherchedisplay, eine Holzkonstruktion, in der wertvolle Bücher wie Dada-Erstausgaben oder Faksimiles von Briefen und Fotos ausgestellt werden können. Prägend für den Raum sind schließlich zwei ›Leuchtenskulpturen‹ von Stefan Burger, die seit der Wiedereröffnung die Bibliothek und bestenfalls die Gemüter erhellen. Die Skulpturen aus gegossenem Glas und Aluminium setzen Burgers begonnene Auseinandersetzung mit Kunst als Gebrauchsgegenstand fort. Die Begrifflichkeiten, mit denen sich die Skulpturen attributieren lassen, schwanken munter zwischen hübsch und hässlich, pedantisch und rotzig, dekorativ und nützlich, ekelhaft und erotisch. Es sind hybride Anlagen oder Kippfiguren, die je nach Betrachtung zu einer unterschiedlichen Qualität oder Deutung neigen und mit Zierrat und Funktion umgehen.

Am Abend verwandelt sich das Haus in einen lebendigen Barbetrieb. Nach wie vor ist der Historische Saal im Obergeschoss ein beliebter Ort dafür. Regelmäßig finden dort Soireen und Spezial- sowie Gastveranstaltungen statt. So starteten wir 2022 nach einen Maskenworkshop mit ektor garcia mit einer Versteigerungsgala, die Studierende der F+F initiierten: 25 künstlerische Beiträge verschiedener Züricher und internationaler Kunstschaffender – unter anderen MANON, Walter Pfeiffer, Mickry3 – wurden zugunsten geflüchteter Menschen zusammengetragen. Die Veranstaltung richtet sich gegen eine unsolidarische Flüchtlingspolitik und für eine breite Solidaritätsbewegung mit allen Menschen auf der Flucht.

Mitte Juni 2022 folgte das Zurich Art Weekend, für das wir ein umfangreiches Programm organisierten. Gleich zweimal war die Performance Theodora or The Progress (Abb. 12) von Alpina Huus zu sehen, nachdem der Film zum Projekt im Mai im Cabaret Voltaire gescreent wurde, gefolgt von einem Artist Talk mit Elise Lammer und Izidora L. LETHE. Das Kollektiv hinterfragte inmitten von Generations-, Klima- und Wirtschaftskrisen die Sicht auf die Realität sowie die Legitimität des Sprechens. Die Performance thematisierte den Begriff der Ermächtigung und erforscht das Potenzial des Unterbewussten. Aus den Werken von Virginia Woolf, Adrian Piper, Lisa Simpson, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Snoop Dogg und Franz Kafka schöpfend, durchleuchtete das Projekt die Fähigkeit der nonverbalen Kommunikation als Mittel gegen verschiedene Arten von Diskriminierung. In Anlehnung an den Namen der möglicherweise ersten feministischen Figur, der Kaiserin Theodora (um 500–548 n. Chr.), inszenierte Theodora or The Progress eine kollektive Übernahme, die von Liebe, Verwandlung und Transzendenz spricht. Im Zentrum stand die Verwandlung der erzählenden Person und einiger seiner Kompliz*innen in ein Rudel von Hunden.

Ebenfalls auf dem Programm stand die Midnight Speech von Ilaria Vinci sowie die Vorstellung der Publikation Emmy Hennings / Sitara Abuzar Ghaznawi. Das Buch bringt die ersten ins Englische übersetzten Gedichte und Texte von Emmy Hennings (1885–1948) mit dem Werk der in Zürich lebenden Künstlerin Sitara Abuzar Ghaznawi (*1995) zusammen. Hennings, Mitbegründerin des Cabaret Voltaire in Zürich (zusammen mit Hugo Ball), war Performerin, Künstlerin und Schriftstellerin, deren Werk bis vor kurzem kaum wahrgenommen wurde. Ghaznawi schuf einen Rahmen und Begegnungen für Hennings’ Schreiben durch Collagen, Skulpturen und neue Texte von Mitgliedern ihrer künstlerischen Gemeinschaft. Bei dieser Nachmittagsveranstaltung wurden Auszüge aus Hennings’ Texten gelesen.

Vom 24. bis zum 25. Juni fanden Veranstaltungen im Rahmen von 20 Jahre seit der Besetzung des Cabaret Voltaire statt. Vor 20 Jahren besetzten am 2. Februar 2002 Künstler*innen und Aktivist*innen die Spiegelgasse 1 – den Ursprungsort von Dada. Die Besetzung endete am 2. April 2002 mit einer (je nach Erzählung) Räumung, der eine Vereinbarung zwischen der Stadt und den Besetzer*innen vorausging. Erst seit dieser Aktion wurde der Ort wieder als Kulturhaus wahrgenommen. Etwas mehr als 20 Jahre später feierten und reflektierten wir diese Initiative und haben via Rundschreiben damalige Akteur*innen eingeladen, das Cabaret Voltaire am 24. und 25. Juni 2022 zu besuchen oder einen Beitrag zu zeigen. Im Zentrum standen die Fragen »Wie wird Raum geschaffen und was bedeutet es, Raum zu schaffen?« Sowohl 1916, 2002 als auch heute galt und gilt es, diese Fragen zu stellen, um herauszufinden, inwiefern Kulturschaffen ermöglicht wird und welche Voraussetzungen, Erzählweisen und Nachwirkungen mit dem künstlerischen Tun einhergehen. Am Freitag jenes Wochenendes weihten wir eine Installation von Mark Divo ein, die über den Sommer zu sehen war. Zudem fand ein Gespräch mit Divo, Jean-Pierre Hoby und Anja Nora Schulthess statt. Maja Hürst legte im Anschluss als Chiri Moya auf. Am Samstag folgte eine Performance von Knarf Rellöm und Tillamanda sowie die wiederkehrenden Chaostage von Ajana Dracula & Friends: eine offene Bühne, auf der alle Interessierten eingeladen waren aufzutreten, um Reden zu halten, Lieder zu singen, Instrumente zu spielen, Tänze vorzuführen, Performances zu machen oder Gedichte zu rezitieren. Erneut finden die Chaostage Mitte Februar 2023 statt.

Als letzte Veranstaltung vor dem Sommer spielten endobliss, buffer, 400jasa, tsjmar, diejayvarni und avia ihre Sets für Radio Bollwerk im Cabaret Voltaire. Besucher*innen waren eingeladen, während der Aufnahme vorbeizukommen und zuzuhören oder an der Bar etwas zu trinken.

Als besonderes Format ist der Raum für Unsicherheit herauszustreichen. Mit Ausbruch des Krieges in der Ukraine steht dieser der Gruppe Stefania zur Verfügung. Jeden Sonntag treffen sich ukrainische Frauen in der Dada-Bibliothek, um sich auszutauschen und eine Community zu bilden.

Der Historische Saal als Ort für Experimente und unmittelbare Auseinandersetzungen

Der Historische Saal blieb auch nach der Sommerpause der Ort für Experimente und unmittelbare Auseinandersetzungen. Die erste Veranstaltung war die der LANGEN NACHT am 2. September. 2003 Menschen besuchten die historische Dada-Adresse an diesem Samstag. Die LANGE NACHT war zugleich ein Auftakt des kollaborativen Projekts [not] here von Sarah Burger (Zürich) und Felipe Ribeiro (Rio de Janeiro). Burger und Ribeiro entdeckten ein geteiltes Interesse an Tektonik, Erd- und Steinformationen sowie an Landschaften und Geografien, die neue Zugänge zu Geschichte und Zeit ermöglichen. Das Cabaret Voltaire war schon immer ein Ort des künstlerischen Austauschs, der internationalen Zusammenarbeit und des Experimentierens mit neuen Formen der Begegnung. Im künstlerischen Austausch zwischen Burger und Ribeiro stand der Fokus – wie vielleicht immer in der Kunst – auf der Frage, was sich im Dazwischen eröffnet: Jeder Blick auf Bildwelten und Objekte offenbart unterschiedliche Wertesysteme, jede Gegenüberstellung von Objekten wirft ein neues Licht auf Texturen, Formen, deren Erzählungen und Symbolik. Ribeiro zeigte die Soundinstallation Whispers, die Fotoserie Dematerialize i – dawn sowie den Film Dematerialize ii – dusk. Sarah Burger präsentierte ›Dinge‹, wofür sie mehrere Freund*innen bat, ihr Listen von Gegenständen zu geben, die sie dann mit verbundenen Augen aus Ton formte. Sie interessierte sich mitunter für die Frage, welche Semantik Formen haben. Des Weiteren war das Filmgedicht All the landscapes I’ve ever seen und die digitale Collage Hands, Magic, Hands ausgestellt. Während der ersten begleitenden Soiree führten Ribeiro und Burger einen Dialog, in der zweiten Soiree vertonte Dimitri Howald die Werke musikalisch.

Das Projekt war ein Experiment für die Künstler*innen: Wie kann eine Ausstellung im lebendigen Barbetrieb funktionieren und auf welche Weisen lässt die Bar sich aktivieren? Im Anschluss an das Dada-Erbe sind Experimente mit Formaten besonders prägend für das Programm des Cabaret Voltaire. Ein Beispiel hierfür ist die Reihe SCACCHI NOISE. The Ultimate NOISE CHESS Challenge (Abb. 13), die im Rahmen von Ilaria Vincis Ausstellung Phoenix Philosophy Café stattfindet und in Kollaboration mit Vinci und CZARNAGORA (Rafal Skoczek) entstand. Besucher*innen sind eingeladen, frei oder in einem Turnier Schach zu spielen, während im Hintergrund Noise-Musik zu hören ist. Am 4. Oktober begleiteten CATATONIC LEISURE ALONE (Anton Ponomarev) and Luis Sanz die Spieler*innen mit Sound-Interventionen. Klang und Schach haben eine dadaistische Tradition. Marcel Duchamp und John Cage entwickelten kurz vor Duchamps Tod 1968 das Projekt Reunion, bei dem Schachpartien in Musikstücke verwandelt wurden. Am 21. Februar 2023 wird die Soiree, die auf reges Interesse stieß, erneut stattfinden.

Mit Ilaria Vinci sind 2023 weitere Veranstaltungen geplant. Es gehört zum Konzept, dass die Ausstellungen thematisch mit Soireen ergänzt werden. Dementsprechend luden wir im Kontext der Ausstellung mit Sophie Taeuber-Arp und Mai-Thu Perret Silvia Boadella ein, um im Rahmen von Zürich liest ihr Buch Sophie Taeuber-Arp – Ein Leben für die Kunst | A Life through Art vorzustellen. Boadella ist die Großnichte von Sophie Taeuber-Arp, die mit dem Lebenswerk der Künstlerin aufgewachsen ist.

Wie mit Zürich liest gehören Kooperationen mit anderen Institutionen und Festivals zum Selbstverständnis des Cabaret Voltaire. Es ist wichtig, dass Initiativen die Kulturlandschaft der Stadt verbinden. 2022 fanden besonders viele Kooperationen mit der Universität Zürich und der ETH Zürich statt. Unter anderem luden wir gemeinsam mit gta invites (ETH) den Künstler Michael Stevenson ein, der mit Khensani Jurczok-de Klerk, Daniel Tischler und Adam Jasper über seine unkonventionelle Übersichtsausstellung Disproof Does Not Equal Disbelief (KW Berlin 2021) sowie sein Œuvre an der Schnittstelle von Wirtschaft, Technologie, Bildung und Glauben sprach.

Weiter arbeiteten wir eng mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und dem Xenix-Kino zusammen, um die bekannte feministische Filmtheoretikerin und Kuratorin Laura Mulvey nach Zürich zu holen. Im Cabaret Voltaire blickte Mulvey auf die Ausstellung Frida Kahlo and Tina Modotti zurück, um die Ziele und ästhetischen Entscheidungen der kuratorischen Arbeit zu reflektieren.

In Kooperation mit dem Theater Neumarkt und der Zürcher Hochschule der Künste erfolgte die Einladung des Slow Reading Club am 15. November (Abb. 14). Die halbfiktionale Lesegruppe, die Ende 2016 von Bryana Fritz und Henry Andersen ins Leben gerufen wurde, erforscht und unterbricht die ›Leser*innenschaft‹ als eine Möglichkeit, die Kontaktzonen zwischen Leser*in und Text, Text und Text, Leser*in und Leser*in zu stimulieren. Wenn Lesen eine Handlung ist, die ausgeführt wird, könnte sie dann auch choreografiert werden? Und könnten solche Choreografien einen Raum des Lesens eröffnen, der über die strenge Definition des Lesens fürs Verständnis hinausgeht? Die Sessions muten sehr dadaistisch an, zumal Bedeutung nicht über den Inhalt der Texte hergestellt wird, sondern über Klang, Rhythmus und Begegnung.

Nicht mit einer öffentlichen Institution, sondern einem neu gegründeten Verein kollaboriert das Cabaret Voltaire seit Dezember 2022. Als besonderes Experiment starteten wir am 8. Dezember The Psychedelic Salon (Abb. 15) in Zusammenarbeit mit Susanne G. Seiler. Es werden keine Drogen genommen, sondern über den Stand der psychedelischen Forschung gesprochen. Schon die Dadaist*innen interessierten sich für die Rolle des Unbewussten und bewusstseinserweiternde Substanzen. Das Thema Psychedelika stößt in den letzten Jahren gesellschaftlich, in den Künsten sowie in der Wissenschaft auf großes Interesse – wir erleben eine psychedelische Renaissance (auch in der Schulmedizin). Am 8. Dezember war Helena Aicher zu Gast, Doktorandin der Psychologie an der Universität Zürich, die zu Ayahuasca forscht.

Lebendige Vermittlung durch Führungen, Workshops für Schulklassen, Lesegruppen und Audio Guide

Seit 2022 pflegt das Cabaret Voltaire eine Kooperation mit schule+kultur und bietet Workshops für Schulkassen an. Im Workshop Lautgedichte erkunden die Schüler*innen durch vielseitige Experimente die Sprache, den Körper und die Stimme (Abb. 16). Dabei wird die Rolle der Sprache in unserer Gesellschaft besprochen, über das Verhältnis zwischen Form und Inhalt nachgedacht und zu aktuellen Themen lautmalerische Gedichte kreiert, die auf der Bühne vorgetragen oder zu Plakaten verarbeitet werden. Weiterhin biete ich zusammen mit der Kunsthaus-Kuratorin Cathérine Hug Dada-Führungen durch den Kreis 1 an. Neben den beiden Institutionen führen wir die Teilnehmer*innen zu weiteren Dada-Spielstätten in der Stadt, die das Milieu und die Orte zeigen, in denen Dada entstand und wirkte.

Für die alltägliche Vermittlung steht der Audio Guide bereit, der im Oktober 2022 lanciert wurde und von Alicia Aumüller in Deutsch und Englisch eingesprochen wurde. Der Audio Guide war seit 2019 von Laura Sabel in Arbeit und führt nicht nur zurück ins Zürich um 1916, sondern erweitert und befragt den historischen Blick auf Dada mit zeitgenössischen, kritischen Sichtweisen in Bezug auf Diskurse zu Themen wie Dada Queer, Dada Postkolonial, Dada Avantgarde und Dada Propaganda. An diesem Abend trug die Schauspielerin und Sprecherin Alicia Aumüller unter anderem das feministische Manifest der im Dadakreis tätigen amerikanischen Dichterin und Künstlerin Mina Loy (1882–1966) sowie das bekannte Gedicht Gadji beri bimba von Hugo Ball (1886–1927) vor.

Zur Vermittlung gehört jedoch auch das gemeinsame Lernen. Als wiederkehrende Reihe luden wir mit CARAH – Collective for Anti-Racist Art History viermal zu einer Reading Group ein. Gemeinsam widmeten wir uns der Lektüre und Diskussion von Texten zu (Anti-)Rassismus in der Kunstgeschichte und damit im Zusammenhang stehenden Themen. Zielsetzung war, die in der Kunstgeschichte teilweise tief verwurzelten rassistischen Ideologien kritisch zu hinterfragen und aufzubrechen. Bemerkenswert an der Lesegruppe war die Diversität. So kamen die Teilnehmenden aus unterschiedlichen Disziplinen sowie Kulturen und gehörten unterschiedlichen Generationen an. Eine Vertiefung dazu war auch die Panel-Diskussion des Doktoratsprogramms Epistemologien ästhetischer Praktiken der Universität Zürich, bei der das Cabaret Voltaire als Kooperationspartner auftrat. Zu Gast des Panels Verlernen. Postkoloniale Perspektiven waren María do Mar Castro Varela (Berlin), Michaela Ott (Hamburg) und Marita Tatari (Stuttgart/Berlin). Ines Kleesattel (Zürich) moderierte die Veranstaltung.

Ein Brutkasten zwischen Stube und Bühne

Ilaria Vinci gab mit ihrem Phoenix Philosophy Café und der Frage, inwiefern der Kunstraum als Brutkasten genutzt werden kann, während die Welt in Flammen steht, einen wichtigen Impuls. Nach knapp neun Monaten im sanierten Cabaret Voltaire spüre ich die Eigenart der Institution immer deutlicher: Das Cabaret Voltaire ist immer ›dazwischen‹ – klein und groß, Museum und Experimentierraum, Stube und Bühne, Szeneort und Tourismusspot. Indem sich Leben und Kunst verbindet und die persönliche Gastfreundschaft eine wichtige Rolle spielt, hoffen wir, dass das Cabaret Voltaire ein Ort sein kann, in dem ernsthafte und zugleich spielerische Auseinandersetzungen stattfinden können. Ich möchte daran arbeiten, dass das Mikroklima im Inkubator Cabaret Voltaire eine bestmögliche Voraussetzung bereitstellt, um ebendiese Begegnungen zu initiieren. Dafür sind die vielen wertvollen Mitarbeiter*innen tragend, die alle an jenem 30. April 2022 das erste Mal hinter den Tresen standen. Das Cabaret Voltaire ist zu einem gemeinschaftlicheren Projekt geworden als es noch vor der Renovierung war und dafür bin ich sehr dankbar.

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