12.02.2021

Dada und das Gesamtkunstwerk

Ein Versuch, uns einem umstrittenen Begriff anhand einiger Dada-Beispiele zu nähern

Der Merzbau des Hamburger Dadaisten Kurt Schwitters, der Monte Verità am Lago Maggiore, Bauhaus, die Wiener Secession – und auch Dada: All diese Namen, Orte und künstlerische Praktiken können unter dem Begriff «Gesamtkunstwerk» diskutiert werden. Als Vorstellung einer Synthese unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen sollen Dichtung, Musik, Tanz, Architektur oder bildende Kunst im Gesamtkunstwerk nicht willkürlich zusammengestellt werden, sondern sich gegenseitig ergänzen.

Das «Gesamtkunstwerk» geht auf die Romantik zurück, doch als sein wichtigster Verfechter gilt der Komponist Richard Wagner, der sich den Begriff 1849 in zwei Aufsätzen neu aneignete. Wagner war der Überzeugung, alle Künste seien gleichberechtigt. Seine Oper sollte die Musik keinesfalls absolut setzen und ihr andere Kunstformen, insbesondere das Drama, unterordnen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks ein wichtiger Anhaltspunkt rund um Debatten, wie unterschiedliche Kunstmedien fusionieren können. Schon zu Wagners Zeit wandelte sich das Verständnis des Begriffs: Das Gesamtkunstwerk soll über die romantische Utopie der reinen Ästhetik hinausgehen und diese mit dem modernen Leben versöhnen. Auch für Wagner wohnte dem Gesamtkunstwerk eine soziale und politische Vision inne, eine neue Gesellschaft zu erschaffen. In neuerer Zeit ist der Begriff des Gesamtkunstwerks aber auch ein umstrittener. Je nach Kontext und Künstler*in wird er unterschiedlich interpretiert und überschneidet sich mit anderen intermedialen Kunstformen. Die Idee dient allgemein als Begriffshülse für trans- und interdisziplinäre Praktiken.

In jüngsten Jahren bemühen sich die Künste und Wissenschaft darum, diese disziplinären Grenzen zu überschreiten und eindimensionale Fragestellungen zu vermeiden, um einen (selbst)kritischen Blick auf die eigene Praxis zu gewinnen. Das Zusammenspiel verschiedener Kunstformen wird also als ein sich befragendes verstanden. Demgegenüber fungiert das Wagnerische Gesamtkunstwerk als potenzierte Einheit, die die Gefahr mit sich bringt, als Nährboden für totalitäre Ideologien zu dienen.

Im Cabaret Voltaire beschäftigt uns das Gesamtkunstwerk und die Unsicherheit um diesen dehnbaren und unpräzisen Begriff in vielerlei Hinsicht. Einerseits im Hinblick auf das dadaistische Erbe und die dezidierte Hinwendung zum Gesamtkunstwerk. Die Spiegelgasse 1 wurde von den Dadaist*innen als vereinende Bühne genutzt. Andererseits finden sich auch im aktuellen Programm Spuren dieses künstlerischen Ansatzes. So führt Agnes Scherer (*1985) in ihrer Operette und Ausstellung «The Teacher», die momentan im Cabaret Voltaire gezeigt wird, mit der Zusam­menführung von Gemälden, Puppenspiel, Skulptur, Bühnentechnik, Musik und Text die Tradition des Gesamtkunstwerks fort. Im Spätsommer 2021 ist ein Autor*innen-Abend als Zusammenspiel unterschiedlicher Künste und Zugänge sowie ein Gastspiel auf dem Monte Verità geplant. 2022 folgt die dialogische Ausstellung zwischen Werken von Mai-Thu Perret und Sophie Taeuber-Arp, die sich zu ihrer Zeit mehrerer Disziplinen bediente.


Richard Wagner, Wassily Kandinsky, Hugo Ball und die Dadaist*innen

Der Mitgründer des 1916 eröffneten Cabaret Voltaire, Hugo Ball, war sicherlich eine treibende Kraft in der Hinwendung zum Gesamtkunstwerk. Er vertrat die Idee, die Künstlerkneipe solle Tanz, Literatur und Kunst vereinen. Er und seine künstlerischen Weggefährt*innen begrenzten sich nicht nur auf eine Kunstform. Sophie Taeuber-Arp tanzte im Cabaret Voltaire auf der kleinen Holzbühne im kubistischen Kostüm von Marcel Janco, entwarf angewandte Kunst und stellte in der Galerie Dada an der Zürcher Bahnhofstrasse ihre Werke aus. Emmy Hennings schrieb Gedichte und trat abends in der Künstlerkneipe als Sängerin und Tänzerin auf. Neben den einzelnen Beiträgen, die als Gesamtwerke fungieren sollten, versuchte Ball auch Formate zu schaffen, wie die Soireen, die unterschiedliche Kunstformen kombinierten. Am selben Abend tanzte Sophie Taeuber-Arp, während Hans Heusser und Marcel Sulberger musizierten und Emmy Hennings ihre Gedichte vortrug. Für Ball mussten die Kunstformen nicht zwingend zusammenfliessen. Den Begriff des Gesamtkunstwerks verwandelte er zur Gesamtkunst. Das «Werk» lässt er fallen, denn wenn diese Kunstwerke zusammen auftraten, mussten sie kein «Werk» produzieren. Es sind Aussagen wie diese, welche auch aufzeigen, weshalb das Cabaret Voltaire als Geburtsort der prozessorientierten und performativen Kunst gilt.

Ball war durch Wassily Kandinsky auf die Idee eines Gesamtkunstwerks gestossen. Sein wie auch Kandinskys Verständnis des Gesamtkunstwerks unterschied sich von Richard Wagners, der über 50 Jahre vor Ball nach Zürich ausgewandert war. Wagner zog die verschiedenen Kunstformen zur Hilfe, um den Ausdruck des Werkes zu steigern und zu bekräftigen. Zumindest was die Malerei und Poesie anbelangt, geht Kandinsky von einer entgegengesetzten Idee aus. Er möchte die einzelnen Künste als Gegeneinander zu einer Komposition zusammenfügen. Auf ihr Wesentliches reduziert, sollen sie selbständig funktionieren, in der Mischung aber ein Monumentalkunstwerk für die Zukunft schaffen. Wenn für Ball und Dada die Abstraktion zentral war, beziehungsweise die komplette Reduktion, um den Fokus auf das Wesentliche zu ermöglichen, dann ist in diesem Vorhaben Kandinskys Gedanke zu finden. In ihren Gedichten nutzen Dadaist*innen Wörter als materielle Objekte, als Laute anstatt als Bezeichner. In ihren Gemälden setzten sie Farbe als Material ein, anstatt dass sie Gegenstände darstellen soll. So wurde die Struktur gesellschaftlicher und künstlerischer Ausdrucksweisen sichtbar und zeigte sich in ihrer Essenz.

Bei Ball treten Gleichzeitigkeit, Pluralismus und die Essenz aufeinander und lösen das lineare Denken ab. Eine Idee, die er sicherlich auch von Nietzsche übernommen hat. Vor den Dada-Jahren beschäftigte Ball sich intensiv mit dem Philosophen, begann auch eine Dissertation zu ihm. Nietzsche ersehnte sich in Die Geburt der Tragödie die Errettung aus dem Nihilismus durch die Kunst. Nur als ästhetisches Phänomen sei das Dasein und die Welt gerechtfertigt. Ein Konzept, das sehr eng mit seiner sich wandelnden Faszination für Wagners Kunst verbunden ist. Während aber bei Wagner künstlerische Reinheit, Autonomie und eine gewisse Offenheit gegenüber totalitärer Ideologien zentral waren, war das Schaffen der Dadaisten Kandinsky und Ball viel verstreuter und immer anti-autoritär. Wenn Ball also Wagner zitiert, tut er dies nur im Zusammenhang mit Nietzsche (und Kandinsky) und nicht im Kontext des Gesamtkunstwerks.


Harald Szeemanns «Der Hang zum Gesamtkunstwerk», 1983

Fast genau 100 Jahre nach Richard Wagners Tod eröffnete der international renommierte Kurator Harald Szeemann im Jahr 1983 die Ausstellung «Der Hang zum Gesamtkunstwerk» im Kunsthaus Zürich. Der Schweizer Ausstellungsmacher, der als Erfinder des freien Kurator*innenberufs gilt, war sowohl vom Gesamtkunstwerk als auch von Hugo Ball begeistert. Über seine Ausstellung «Hommage an Hugo Ball», die er Jahre zuvor, 1957, kuratierte, sagte er später: «Ich versuchte alles, was es von Ball gibt, zusammenzuführen. Ausserdem haben wir seine Texte vorgetragen. Auch die Enkelin von Emmy Hennings machte mit. Da zeigte sich wohl schon mein Hang zum Gesamtkunstwerk.» Mit seiner Ausstellung «Der Hang zum Gesamtkunstwerk», die später auch nach Wien, Düsseldorf und Berlin wanderte, präsentierte Szeemann unterschiedlichste Utopien von Gesamtkunstwerken seit 1800 und ordnete diese in ihren kulturkritischen, philosophischen und religiösen Kontext ein. Hier zeichnet sich sein Interesse für alternative Lebensformen, Anarchismus, Utopien, Surrealismus, Dada, Art Brut und die gleichwertige Betrachtung aller Kunstformen ab. Über 300 Objekte; Partituren, Gemälde und Architekturmodelle wurden an der Ausstellung versammelt. Unter ihnen waren das Goetheanum in Dornach, die Sagrada Família von Antonio Gaudi, Anselm Kiefers mythologische Allegorien und der Tessiner Hügel Monte Verità. Szeemann suchte nach neuen Lesarten der Moderne anhand der Geschichte radikaler und alternativer politischer Bewegungen, utopischer Ideen und mystischer Weltanschauungen.


Kurt Schwitters Merzbau

Ein weiteres wichtiges Werk und ein bekanntes Dada-Gesamtkunstwerk, das Szeemanns in seiner Ausstellung zeigte, war Kurt Schwitters’ Merzbau. Kurt Schwitters gehörte zu den bedeutendsten Dada-Persönlichkeit von Hannover. Er gilt als künstlerischer Einzelgänger, denn weder in die Berliner Dada-Kreise noch in jene der niedersächsischen Hauptstadt wollten sie ihn aufnehmen. Seine Technik «Merz» sollte sein Leben und die Kunst zu einem Gesamtkunstwerk vereinen. Abgeleitet von «Kommerz», las er das Wort erstmals auf einem Papierschnipsel, den er auf der Strasse aufgelesen hatte. So begann er, aus alten, gefundenen Gegenständen; Zeitungsausschnitten, Reklamen und Abfall, Collagen zusammenzustellen. In einer Zeit, in der Krieg und Wirtschaftskrisen omnipräsent waren, fertigte er aus Müll Neues, und wollte so eine Form von Widerstand leisten. Nebst seinen Collagen malte, komponierte und dichtete Schwitters. Der Höhepunkt seines Werkes ist der berühmte Merzbau. Schwitters begann 1920 damit, sein Atelier in Hannover auszubauen. Es wuchs und wucherte in benachbarte Wohnungen, auf mehrere Stockwerke. Ein Gesamtkunstwerk insofern, weil Schwitters alle Facetten des Baus übernahm; die Struktur, Gestaltung und das Design von Aussen- und Innenarchitektur. Der Merzbau ist ein begehbares Kunstwerk, indem der Künstler übergrosse Plastiken, Skulpturen und Collagen arrangierte und so sozusagen eine Raumcollage schuf. Insgesamt konstruierte Schwitters drei solche Bauwerke. Sein Original-Merzbau in Hannover wurde während dem Zweiten Weltkrieg zerstört. Der zweiter Merzbau in Lysaker, Norwegen brannte 1951 in einem Feuer nieder. Schwitters starb, bevor er sein letztes Gesamtwerk in England fertigstellen konnte. Doch dieses ist bis heute erhalten.


Monte Verità

Eine Art Gesamtkunstwerk entstand auch mit dem Monte Verità, in der Nähe des Tessiner Städtchens Ascona. Dieses klimatische und landschaftliche Mikroparadies entwickelte sich von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zu einem Zufluchtsort für Lebensreformer*innen, Vertreter*innen des Pazifismus, Anarchismus und Kommunismus, Schriftsteller*innen (unter anderen Hermann Hesse), Künstler*innen und Kriegsflüchtlinge. 1900 von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann erworben, war der «Berg der Wahrheit» eine Kooperative und Naturheilanstalt, wo Gäste alternative Lebensstile kennenlernten. Die Bewohner*innen lebten vegetarisch, genossenschaftlich, frei von Genussmitteln und zumindest oberflächlich gleichberechtigt. Bilder zeigen nackte Männer, die in Gärten Gemüse graben und Frauen, die in luftigen langen Kleidern tanzen. Es bildete sich eine Kolonie von Künstler*innen, die sich dort bei den oberitalienischen Seen inspirieren liess. Unter ihnen waren die Dadaist*innen Hugo Ball, Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Hans Richter und Marcel Janco. Auch Hugo Ball und Emmy Hennings besuchten den Ort. Analog zur Gründung des Cabaret Voltaire 1916 in Zürich eröffnete 1913 Rudolf von Laban in den Sommermonaten seine Schule für Bewegungskunst auf dem Monte Verità, wo sich die Dadaist*innen und die Tänzer*innen der Laban-Schule begegneten und künstlerisch zusammenarbeiteten. Der Monte Verità entwickelte sich im frühen 20. Jahrhundert ausserdem zu einem der wichtigsten Entstehungsorte des modernen Ausdruckstanzes. Basierend auf Improvisation, Gymnastik und einer Mischung aus Tanz, Gesang und Gesprochenem verbindet Laban den Körper mit dem ihm umgebenden Raum. Er wollte den Tanz zu einer eigenständigen Kunstform erheben, ihn von anderen Künsten lösen und Leib, Seele und Geist vereinen. Damit stellte er den Tanz ins Zentrum seiner eigenen Vorstellung des Gesamtkunstwerks. Die Tänzer*innen, unter ihnen Suzanne Perrottet, Katja Wulff und Mary Wigman, tanzten an der frischen Luft, entweder nackt oder in leichten Gewändern bekleidet. Mary Wigman entwickelte dort auf dem Monte Verità unter Laban ihren eigenen Tanzstil und machte den Ausdruckstanz bald international bekannt. Geprägt von Drehbewegungen, die von dort komponierter Musik begleitet wurden, sollte dieser sowohl spirituelle als auch materielle Ausdrucksform zu einem absoluten Tanz werden. Wigmans Tanz hatte nichts mit Dramatik oder Theater zu tun – er ist abstrakt, und soll metaphysische Erfahrungen visualisieren. Der Monte Verità verlor ab dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung. Erst 1979 mit Harald Szeemanns Ausstellung «Mammelle delle verità» («Die Brüste der Wahrheit»), die vor Ort eröffnet wurde, dann auf Reisen ging und heute als Dauerausstellung an seinen Ursprungsort zurückgekehrt ist, wurde der Berg der Wahrheit wiederentdeckt.


Elena D'Amato

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Weiterführende Literatur

Dayan, Peter: Zurich Dada, Wagner and the Union of the Arts, in: Forum for Modern Language Studies 50 (4), St. Andrews 2014, S. 426-452.

Finger, Anke: Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen 2006.

Häni, Susanne/Harald Szeemann (Hg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau 1983.

Hedwig Müller: Mary Wigmans Tanz und die Künste, in: Mona De Weerdt/Andreas Schwab: Monte Dada. Ausdruckstanz und Avantgarde, Bern 2018.

Vinzenz, Alexandra: Vision Gesamtkunstwerk. Performative Interaktion als künstlerische Form, Bielefeld 2018.

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