19.10.2023

«Poetry for Revolutions»

A selection of historical Dada manifestos (DE/EN)

Einleitung (DE) – English below

Für die Ausstellung «Poetry for Revolutions. A Group Show with Manifestos and Proposals» haben wir verschiedene historische Manifeste in einem Reader zusammengefasst, der im historischen Saal zur Verfügung steht und auch hier zu lesen ist.

Bei Dada herrschte ein Manifestantismus: Kaum eine Soirée, eine Zeitschrift oder Aktion kam ohne Programmatiken aus. Die Gründe für den Wunsch, Ziele und Absichten öffentlich zu erklären, waren mannigfaltig. Mitten im Ersten Weltkrieg lesen sich die Texte als Verzweiflung über das Versagen der bürgerlichen Kultur, welche die industrielle Massenvernichtung zuliess. Auch die Sprache der Politik, ihre autoritären Phrasen und Leerformeln gerieten ins Visier. Die Manifeste entstanden unter anderem aus einem neuen Selbstverständnis heraus, dass die Kunst und die Künstler*innen auch etwas zu sagen haben. Das Manifest wird nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, losgelöst vom autonomen Kunstwerk betrachtet. Der Schreibakt entstand aus dem Wunsch heraus, Kunst und Leben zu verbinden. Die programmatischen Werkzeuge der Politik wurden von der künstlerischen Praxis einverleibt. Allerdings hat diese Form kunsthistorisch bisher wenig Beachtung gefunden.

Im Cabaret Voltaire zeigte sich der Manifestantismus zunächst zurückhaltend, die Gruppe und ihre Praxis mussten sich zuerst formen. Am 5. Februar 1916 gründeten die Dadaist*innen die Künstlerkneipe Voltaire, im April entstand die Selbstbezeichnung «Dada», ab Juli waren sie an anderen Orten in der Limmatstadt aktiv. Weitere Dada-Zentren folgten unter anderem in Berlin, Paris und New York, von denen weitere Manifeste in diesem Reader zeugen. Dennoch sind die Manifeste, die sich um Dada herum gruppieren lassen, eklektisch.

Die Auswahl der Manifeste, die den zeitgenössischen künstlerischen Manifesten von «Poetry for Revolutions» im Historischen Saal gegenübergestellt sind, geben einen Vorgeschmack auf deren unterschiedliche Richtungen. Einige sind positiv formuliert, andere wirken wie Anti-Manifeste. Wir beobachten ein Genre, das in den Spiegel schaut, sich selbst referenziert, und durch provokative Gesten herausfordert.
1909 entstand das futuristische Manifest von Filippo Tommaso Marinetti, ein wegweisendes Werk, das in vielerlei Hinsicht als Ausgangspunkt der avantgardistischen Streitschriften gelesen wird. Der Futurist verteidigt im Gegensatz zu Dada jedoch Zerstörung und Gewalt, die sich als zutiefst kriegsverherrlichend und frauenverachtend lesen. Im Jahr 1912 war es Valentine de Saint-Point, die Marinetti direkt mit einem Manifest antwortete, in dem sie ausdrücklich den sexistischen Inhalt des ersten futuristischen Manifests kritisierte. Die gleiche Autorin verwendete einige Jahre später dieselbe Form des Manifests, um schockierende Aussagen über Sexualität und Körper zu verteidigen. Diese Gewalt findet sich auch in der Prosa von Mina Loy und ihrem «Feminist Manifesto», das in seiner selbstbewussten Radikalität für eine absolute Zerstörung eintritt, um die Frau aus ihrer «illegalen» Situation zu befreien.

Ab 1916 zeugen verschiedene Texte von Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Francis Picabia u. a. von der Entstehung der Dada-Bewegung zunächst in Zürich, dann in Paris und Berlin. Im Gegensatz zum avantgardistischen Gründungsmanifest von Marinetti wird bei Dada nicht nur proklamiert, sondern zudem der Vollzug des Sprechakts thematisiert. Die Prosa wird auf verfremdete Weise eingesetzt; der absurde und spielerische Ton enthüllt manchmal eine ergreifende Kritik an der damaligen Politik und der bürgerlichen Heuchelei, manchmal eine nihilistische Haltung gegenüber der modernen Realität. Die Äusserungen von Ideen rund um die Geste des Manifestierens nehmen verschiedene Formen an, wie beispielsweise die Zeichnung bei Tzara. Dada definiert sich nun als dieses Wort-Konzept, das gleichzeitig alles und nichts bedeutet, und das so sein kreatives Potenzial aktiviert. Die Veröffentlichung des chilenischen Dichters Vincente Huidobro im Jahr 1925 zeigt einen strategischen Einsatz des Manifests und hebt die Bedeutung von Paris für die Avantgarde hervor, um seine Ideen für neue kulturübergreifende poetische Gestaltungen zu verbreiten. Einige Jahre später veröffentlichte der Modernist Oswald de Andrade das «Manifesto Antropofago», ein poetischer und kritischer Essay, der die Codes der europäischen Avantgarden aufgriff, um die koloniale Ausbeutung aussereuropäischer Kulturen zu kritisieren, die selbst einer der Hauptmechanismen avantgardistischer Verfahren war.

Die Auswahl der Manifeste in diesem Heft ist keineswegs vollständig und damit subjektiv: Sie beruht auf dem Wunsch, die Vielfalt der Formen zu zeigen, die ein Manifest annehmen kann, von poetischen Formen bis hin zu den düsteren Aspekten der Geschichte, die hier nicht zensiert wurden. Man hätte noch Walter Serners «Letzte Lockerung» oder Kurt Schwitters Erklärungen hinzufügen können. Auch prosaische Texte lassen sich im Zusammenhang mit Manifesten lesen, wie beispielweise Emmy Hennings «Gefängnis». Weitere Manifeste können Sie in den Publikationen lesen, die im Recherchedisplay gleich beim Eingang der Dada-Bibliothek aufliegen. Auch Bauhaus oder De Stijl haben Manifeste verfasst, oder die Bewegungen, die auf Dada folgten, wie Fluxus oder der Situationismus. Die redaktionelle Entscheidung bestand darin, die ersten Seiten der ausgewählten Werke in einer der Hauptsprachen ihrer ursprünglichen Veröffentlichung zu präsentieren. Die Gelegenheit wurde genutzt, um auch die Texte von Gabrielle Buffet und Elsa von Freytag-Loringhoven zu präsentieren, deren moderne und subversive Kunstformen im Allgemeinen unbekannt blieben. All diese Essays und ihre provokative Prosa, die keine Angst davor haben, gegen die öffentliche Meinung zu verstossen, sollten als Zeugnisse der Gedanken gelesen werden, die die Avantgarde-Bewegungen, sowie bestimmte soziale Kämpfe geprägt haben, und als wertvoller historischer Kontext dienen, der es uns heute ermöglicht, die Wichtigkeit von Manifesten zu begreifen.

Triggerwarnung: einige Texte enthalten sexistische, rassistische, und kriegsverherrlichende Äusserungen sowie Erwähnung von Vergewaltigungen.

_______

Introduction (EN)

For the exhibition "Poetry for Revolutions. A Group Show with Manifestos and Proposals", we compiled various historical manifestos into a reader, which is available in the Historical Hall and can also be read here.

Manifestantism reigned during Dada: hardly a soirée, a magazine or an action made do without an agenda. Reasons for the desire to declare goals and intentions publicly were manifold. In the midst of World War I, the texts read as despair over the failure of bourgeois culture, allowing industrial mass destruction. The language of politics, its authoritarian phrases and empty formulas were also targeted. The manifestos emerged, among other things, from a new self-understanding that art and artists also have something to say. The manifesto is no longer considered in isolation from the autonomous work of art, as it was in the 19th century. The act of writing arose from a desire to combine art and life. The programmatic tools of politics were assimilated by artistic practice. However, this form has received little attention in art history.

In Cabaret Voltaire, manifestantism was initially restrained; the group and its practice first had to take shape. On the 5th of February 1916, the Dadaists founded the artists' bar Voltaire, in April they created the self-designation "Dada", and from July they were active in other places in the town on the river Limmat. Other Dada centres followed in Berlin, Paris and New York, among others, of which further manifestos in this reader bear witness. Nevertheless, the manifestos grouped around Dada are eclectic. The selection of manifestos juxtaposed with the contemporary artistic manifestos of "Poetry for Revolutions" in the Historic Hall give a taste of their different directions. Some are positively formulated, others seem like anti-manifestos. We observe a genre that looks in the mirror, references itself, and challenges itself through provocative gestures. In 1909, Filippo Tommaso Marinetti wrote the Futurist Manifesto, a seminal work that in many ways is read as the starting point of avant-garde polemics. The Futurist, unlike Dada, defended destruction and violence, which read as profoundly war-glorifying and misogynistic. It was Valentine de Saint-Point who responded directly to Marinetti in 1912 with a manifesto in which she explicitly criticised the sexist content of the first Futurist manifesto. Some years later, however, the same author used the same form of manifesto to defend shocking statements about sexuality and the body. This violence is also found in the prose of Mina Loy and her "Feminist Manifesto", which in its self-conscious radicalism advocates absolute destruction in order to free women from their "illegal" situation.

From 1916, various texts by Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Francis Picabia and others bear witness to the emergence of the Dada movement, first in Zurich, then in Paris and Berlin. In contrast to Marinetti's avant-garde founding manifesto, Dada not only proclaims, but also addresses the performance of the speech act. The prose is used in an alienated way; the absurd and playful tone sometimes reveals a poignant critique of the politics and bourgeois hypocrisy of the time, sometimes a nihilistic attitude towards modern reality. The expressions of ideas around the gesture of manifesting take various forms, such as the drawing by Tzara. Dada has come to define itself as this word-concept that means everything and nothing at the same time, thus activating its creative potential. Chilean poet Vincente Huidobro's publication in 1925 shows a strategic use of the manifesto, highlighting the importance of Paris for the avant-garde to spread its ideas for new cross-cultural poetic designs. A few years later, the modernist Oswald de Andrade published the "Manifesto Antropofago", a poetic and critical essay that took up the codes of the European avant-garde to criticise the colonial exploitation of non-European cultures, which was itself one of the main mechanisms of avant-garde procedures.

The selection of manifestos in this booklet is by no means exhaustive and thus subjective: it is based on a desire to show the variety of forms a manifesto can take, from poetic forms to the darker aspects of history, which have not been censored here. One could have added Walter Serner's "Letzte Lockerung" or Kurt Schwitter's explanations. Prose texts can also be read in the context of manifestos, such as Emmy Henning's “Prison". You can read more manifestos in the publications available in the research display just by the entrance to the Dada Library. Bauhaus or De Stijl also wrote manifestos, or the movements that followed Dada, such as Fluxus or Situationism. The editorial decision was to present the first pages of the selected works in one of the main languages of their original publication. The opportunity was taken to also present the texts of Gabrielle Buffet and Elsa von Freytag-Loringhoven, whose modern and subversive art forms generally remained unknown. All these essays and their provocative prose, which are not afraid to go against public opinion, should be read as testimonies of the thoughts that shaped the avant-garde movements, as well as certain social struggles, and serve as a valuable historical context that allows us to understand the importance of manifestos today.

Trigger warning: some texts contain sexist, racist and war-glorifying statements as well as mentions of rape.

Valentine de Saint-Point, «Manifeste de la femme futuriste», ed. Direction du Mouvement Futuriste, Milan, Cart. Tip. Angelo Taveggia - S. Margherita, 1912.


Valentine de Saint-Point war eine französische Schriftstellerin, Dichterin und Tänzerin. Ihr feministisches «Manifeste de la Femme futuriste» ist als ausdrücklicher Angriff auf den Machismo von Marinettis Manifest zu verstehen, in dem es heisst: «Wir wollen den Krieg verherrlichen (...) den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.» In ihrem progressiven Text, der erstmals im Juni 1912 in Brüssel und dann in Paris vorgetragen wurde, forderte Valentine de Saint-Point nicht nur die Gleichberechtigung von Mann und Frau, sondern auch die Vereinigung von weiblichen und männlichen Anteilen in jedem menschlichen Wesen./
Valentine de Saint-Point was a French writer, poet and dancer. Her feminist "Manifeste de la Femme futuriste" should be read as an explicit attack on the machismo of Marinetti's manifesto, which reads: "we will glorify war (...) militarism, patriotism, the destructive gesture of freedom-bringers, beautiful ideas worth dying for, and contempt for woman." In her progressive text, first recited in June 1912 in Brussels and then in Paris, Valentine de Saint-Point not only called for equality between men and women, but also for the incorporation of feminine and masculine parts in every human being.

Hugo Ball, «Eröffnungsmanifest», 1. Dada-Abend, Zürich, 14. Juli 1916, in: Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente, hrg. v. Karl Riha und Waltraud Wende-Hohenberger, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1992, S.30.


Hugo Ball war ein deutscher Schriftsteller und Dichter, der im Februar 1916 zusammen mit Emmy Hennings das Cabaret Voltaire mitbegründete. Dieser Text wurde beim 1. Dada-Abend im Zunfthaus zur Waag am 14. Juli 1916, gelesen, als die Dada-Gruppe das Cabaret Voltaire bereits verlassen hatte./
Hugo Ball was a German writer and poet who co-founded the Cabaret Voltaire with Emmy Hennings in February 1916. This text was read at the 1st Dada evening at the Zunfthaus zur Waag on 14 July 1916, when the Dada group had already left the Cabaret Voltaire.

Elsa von Freytag-Loringhoven, "Spaciousness", ca. 1923-1925, in: Body Sweats, ed. Irene Gammel and Suzanne Zelazo, The MIT Press, Cambridge, 2011, p. 257.


Elsa von Freytag-Loringhoven gilt heute als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Avantgarde. Sie wurde in Deutschland geboren und war später in den Avantgardekreisen in New York aktiv. Ihre Praxis reichte von Lautpoesie über Ready-Mades bis hin zu Performances. Einige Theorien bringen sie sogar mit der Entstehung von Marcel Duchamps berühmtem Urinal (1917) in Verbindung. Der Text kann als Manifestgedicht zur Verteidigung einer pseudogöttlichen Macht der Kunst gelesen werden. Die Worte werden hier über ihre evokative Kraft hinaus auch in einer bildlichen Geste verwendet./
Elsa von Freytag-Loringhoven is considered today to be one of the most important female artists of the Avantgarde. She was born in Germany and was later active in the Avant-garde circles in New York. Her practice ranged from sound poetry to ready-mades and performances. Some theories even link her to the creation of Marcel Duchamp's famous Fountain (1917). The text can be read as a manifesto-poem in defence of the pseudo-divine power of art. The words are also used here in a figurative gesture beyond their evocative power.

Vincente Huidobro, Manifestes, Manifeste, Manifest, Manifes, Manife, Manif, Mani, Man, Ma, M. Paris: Editions de la Revue Mondiale, 1925. URL: https://digital.kunsthaus.ch/v...



Vincente Huidobro war ein chilenischer Dichter, der in avantgardistischen Kreisen aktiv war. Er gründete die literarische Bewegung Creacionismo. Zunächst kritisch gegenüber der Form des Manifests, nutzte er diese, um seine Ideen zu verbreiten und sie in das Panorama der europäischen Avantgarden wie dem Surrealismus einzuordnen. Die Tatsache, dass das Manifest auf Französisch verfasst und in Paris veröffentlicht wurde, zeugt ebenfalls von dieser Strategie. Später setzte er seine Ideen um, indem er sich direkt in die chilenische Politik einmischte./
Vincente Huidobro was a Chilean poet active in the avant-garde circles. He founded the literary movement Creacionismo. At first critical of the manifesto form, he used it to spread his ideas and situate them in the panorama of European avant-gardes such as Surrealism. The fact that the manifesto was written in French and published in Paris also bears witness to this strategy. He later put his ideas to use by becoming directly involved in Chilean politics.